Ruthanna Emrys’ A Half-Built Garden: Wie man sich das Ende des Kapitalismus vorstellen kann
Laut einem wahlweise Fredric Jameson oder Slavoj Žižek zugeschriebenen, später von Mark Fisher zu seiner Theorie von »Capitalist Realism« weiterentwickelten, und generell einigermaßen zu Tode zitierten Gedanken ist es leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Ein Blick auf die Science-Fiction-Trends, die in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrtausends das Genre geprägt haben, scheint Jameson/Žižek/Fisher recht zu geben: An Geschichten vom Ende der Welt, Dystopien, mangelte es wahrlich nicht, von The Hunger Games über The Road und Fury Road zu Station Eleven. Geschichten von einer anderen, vielleicht besseren Welt, Utopien, jedoch, waren eine ganze Weile lang selten. Und selbst die wenigen optimistischeren Zukunftsvisionen bedienten sich oft Narrativen, die auch in die neoliberale Erzählung passten: Brad Birds Tomorrowland etwa war erfrischend als Kritik am Sci-Fi-Genre, an genau diesem Versagen, neue Utopien zu liefern; seine eigene Vision einer besseren Welt fokussierte sich allerdings auf eine Art »geistige Elite«, die dem Rest von uns den Weg weisen soll, war also letztlich gut mit der neoliberalen Erzählung vereinbar, die unsere Gegenwart bestimmt. Eine Welt ohne Kapitalismus wagten sich lange also nichtmal diejenigen vorzustellen, deren Job es ist, sich andere Wirklichkeiten auszumalen als die, in der wir leben.
Mittlerweile scheint sich jedoch eine Gegenströmung zu bilden: Star Trek ist zurück im Fernsehen und zu alter Form; Serien wie For All Mankind und The Orville stehen in der Tradition dieses wichtigsten aller utopischen, post-kapitalistischen Sci-Fi-Franchises. Und auch in der Literatur nehmen Autor*innen Jamesons/Žižeks/Fishers Beobachtung immer häufiger als explizite Herausforderung. Die Motivation ist dabei interessanterweise dieselbe, die hinter vielen der dystopischen Geschichten der vergangenen paar Dekaden steckt: die Konfrontation der drohenden Klimakatastrophe.1 Warnen vor dem Schlimmsten ist eine Aufgabe der Science-Fiction, aber eine andere, ebenso wichtige ist das Erschließen von Alternativen. Und wer sich eine Alternative zur Klimakatastrophe vorstellen will, so scheinen immer mehr Autor*innen einzusehen, der muss sich das Ende des Kapitalismus vorstellen.
Am prominentesten und explizitesten ist wohl Kim Stanley Robinsons 2020er Roman The Ministry for the Future. Explizit, weil Robinson, der bei Jameson studiert hat, diesem sein Buch widmet, und den Satz vom »Ende des Kapitalismus« im Text selbst zitiert. Es geht um das titelgebende, fiktive Ministerium, eine internationale Behörde, geschaffen als Reaktion auf eine katastrophale Hitzewelle in Indien, die zur Aufgabe hat, für die Rechte der noch ungeborenen Menschen einzustehen, die in der Zukunft unser Versagen im Kampf gegen die Klimakatastrophe würden ausbaden müssen. Robinson erzählt, zwischen essayistischen Passagen, die Geschichte der Idealist*innen im Dienste des Ministeriums, die sich aufreiben im zunächst aussichtslos scheinenden Versuch, das System zu ändern — und dann, langsam, erste Teilerfolge erreichen. Die Dringlichkeit für Veränderung macht Robinson mit einem Handlungsstrang über eskalierenden Klima-Terrorismus deutlich. Die Botschaft scheint: Kommen wird der Systemwandel so oder so — wenn nicht auf den »offiziellen« Wegen, für die das fiktive Ministerium steht, dann auf inoffiziellen, schmerzhafteren.
Überwunden wird der Kapitalismus in Robinsons Buch jedoch nicht, eine andere Welt wird höchstens angedeutet. So, wie das Ministerium, notgedrungen, auf Inkrementalismus setzt, will Robinson seine Leser*innen zunächst für die bloße Möglichkeit von Veränderung öffnen, uns langsam daran wieder daran gewöhnen, unsere Vorstellungskraft für etwas anderes als Worst-Case-Szenarien zu verwenden. Robinson scheint bedacht, dem in der Reaktion auf jede auch nur vorsichtig hoffnungsvolle Vision von Veränderung aufkommenden Vorwurf der »Träumerei« vorzugreifen: Dem kapitalistischen Realismus setzt er seinen eigenen, akribisch recherchierten Realismus entgegen, der Weg zur Veränderung, den Robinson aufzeigt, ist nicht spektakulär und mittelmäßig inspirierend, aber plausibel. Es ist Systemkritik, die bewusst niemanden schockieren will, und das hat seinen Wert: The Ministry for the Future ist ein Roman, den Barack Obama zu seinen Lieblingsbüchern des Jahres zählen konnte, der ein Mainstream-Publikum anspricht, und der dennoch, so vorsichtig formuliert und bekömmlich verpackt das ist, die Endgültigkeit des Kapitalismus hinterfragt. Radikalisieren wird dieses Buch niemanden, aber vielleicht sät es erste Samen im ein oder anderen Kopf, die später zu größerem aufblühen könnten.
Dennoch: Es wäre nachvollziehbar, würde Robinsons Roman den*die ein oder andere*n unbefriedigt zurücklassen. Wer nach radikaleren Zukunftsvisionen sucht, könnte in Ruthanna Emrys A Half-Built Garden fündig werden.
Emrys lässt ihre Erzählerin an einer Stelle das »divine right of kings« evozieren, und spielt damit auf ein Zitat von Ursula K. Le Guin an, das ähnlich oft zitiert wird wie das von Jameson (oder wem auch immer):
We live in capitalism. Its power seems inescapable. So did the divine right of kings. Any human power can be resisted and changed by human beings.
Es ist ein ähnlicher Gedanke, nur eben mit dem Zusatz, dass die scheinbare Unmöglichkeit, sich andere Wirklichkeiten vorzustellen, ein Trugschluss ist. Es gibt einen Hinweis auf die Fragen, die Emrys sich mit ihrem Buch gestellt hat. Im »Whatever«-Blog formuliert sie diese noch konkreter aus:
[H]ow do you imagine something better than the circumstances that shape everything around you? What looks as different from modern global capitalism as capitalism looks from god-touched emperors? And what parts of modernity will stick around and cause trouble even after they’re supposedly relegated to the past?
Der Verweis auf Le Guin deutet auch an, in welcher literarischen Tradition Emrys sich sieht: der einer Science-Fiction, die von den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften so sehr inspiriert ist wie von den Naturwissenschaften, die fragt, wie die Technologie, mit der wir interagieren, aber auch die Systeme und Ideologien, mit und in denen wir leben, unser Bewusstsein und unsere Beziehungen zueinander verändern.
Strukturell ist A Half-Built Garden ein klassischer first contact-Roman: Er erzählt vom ersten Zusammentreffen der Menschheit mit intelligentem außerirdischen Leben. Diese Menschheit ist uns allerdings fast so fremd wie die Außerirdischen, auf die sie trifft, und so geht es in Emrys Roman wirklich um das Aufeinandertreffen (mindestens) zweier Ideologien, zweier Visionen für unsere Zukunft.
Die Handlung setzt 2083, nach einer weltweiten Revolution, die die Menschheit auf den Weg gebracht hat, die Klimakatastrophe abzuwenden. Die alten Nationalstaaten existieren offiziell noch, haben allerdings an realer Macht verloren. Stattdessen dominieren die watersheds, lokale Kommunen, organisiert um die Ufer der großen Flüsse der Welt. Die watersheds haben keine festen Hierarchien, sie treffen ihre Entscheidungen mittels dandelion networks, im Grunde eine Art Message Boards. Um sicherzustellen, dass die getroffenen Entscheidungen auf den gemeinsamen Werten basieren, haben die Gründer*innen der dandelion networks genau die Technologien implementiert, die heute unsere Kommunikation im Netz oft so unangenehm machen: Algorithmen ordnen und gewichten die Nachrichten und Stimmen der User*innen, basierend auf diesen Grundwerten sowie den Kompetenzen, die User*innen in der Vergangenheit bewiesen haben; gesammelte Daten über die Ökosysteme, die die watersheds schützen wollen, fließen in das System ein, und durch maschinelles Lernen stetig ausgefeilter werdende Programme »sprechen« für die Flüsse, Wälder und Organismen, posten buchstäblich in den Message Boards und machen die Daten so zu einem lebendigen Teil der Debatte. Viele Mitglieder der watersheds, darunter Protagonistin und Erzählerin Judy Wallach-Stevens, interagieren via Körper-Augmentationen mit den dandelion networks, sodass sie den Zustand ihrer Umwelt buchstäblich fühlen können.
Judy lebt im Chesapeake watershed, das sich um den Potomac River organisiert hat. Mit ihrer Frau Carol und dem gemeinsamen Baby macht sie den ersten Kontakt mit den Außerirdischen, die in der Nähe ihres watersheds landen.
Gleich zwei intelligente, außerirdische Spezies landen auf der Erde: Die plains people und tree people leben in »Symbiose« miteinander, in künstlichen Habitaten im Weltraum, die in Ringen um die Sonne ihres Sonnensystems organisiert sind. Die »Ringers«, wie sie sich selbst und die Bewohner*innen der Erde sie bald identifizieren, sind gekommen in einer Mission: Sie wollen die Menschheit warnen, und ihr ein Angebot machen. Die Ringers glauben, dass jede technologische Spezies irgendwann ihrem Heimatplaneten »entwächst«. Die einzige Möglichkeit für eine solche Spezies, sich nicht selbst zu zerstören, ist ihre »birth world« zu verlassen, und eine neue, künstliche Heimat im All zu schaffen. Die Menschheit ist die vierte Spezies, die die Ringers so zu warnen versucht haben, doch in allen anderen Fällen erreichten sie ihr Ziel zu spät. Jetzt, wo sie endlich eine Spezies vor deren Aussterben erreicht haben, sind sie versessen darauf, die Menschheit zu überzeugen, die Erde zu verlassen, um gemeinsam mit ihnen in den »Rings« zu leben — einige von ihnen scheinen notfalls auch bereit, die Menschheit zu ihrem »Glück« zu zwingen.
Wenn dieser Plan der Ringers den*die ein oder andere*n Leser*in an die Ideen von heutigen »rocket billionaires« wie Elon Musk erinnert, dann ist das Absicht: Auch Judy ist schockiert, weil sie sich an eine Ideologie erinnert fühlt, die sie überwunden geglaubt hatte. Die einst mächtigen Konzerne der Welt haben den Kampf um Macht gegen die watersheds verloren. Doch manche Menschen hängen noch der alten Ideologie vom Streben nach unendlichem Wachstum und Profit an. Sie leben auf »aislands«, künstlichen Inseln, und warten nur auf eine Gelegenheit, wieder nach ihrer alten Macht zu greifen. Und obwohl sich schnell Sympathien zwischen den Bewohnern des Chesapeake watersheds und einzelnen Ringers ergeben, sind die Außerirdischen auch bereit, mit den Vertreter*innen der Konzerne zu verhandeln, wenn sie das näher an ihr Ziel bringt, die Menschheit zu überzeugen, ihren Heimatplaneten zu verlassen.
Aber nicht nur die Konzerne wollen den Ringers ins All folgen: Die USA senden Wissenschaftler*innen der NASA, für die die Begegnung mit den Außerirdischen die Chance bedeutet, die in den letzten Jahrzehnten weitgehend eingeschlafene Erkundung des Weltalls wieder aufzunehmen. Die NASA-Gesandten begegnen den Ringers mit einem entwaffnenden Enthusiasmus — »They have a Dyson sphere!« —, und spätestens hier wird deutlich, dass in der radikalen Umstrukturierung der Gesellschaft des Romans, so utopisch sie in vielerlei Hinsicht scheint, auch etwas verloren gegangen ist. Die NASA schaute zwar mit ihren Teleskopen in die Sterne, sagt Judy an einer Stelle etwas despektierlich, aber »didn’t think it their business to look back down«. Den watersheds aber kann man den umgekehrten Vorwurf machen: Sie scheinen so sehr damit beschäftigt, nach unten zu schauen, dass ihnen ein wenig der Entdeckergeist verloren gegangen ist. Es gibt ja diese Linie der Kritik an den »rocket billionaires«: Man solle erstmal unsere Probleme hier auf der Erde lösen, meinen manche, bevor man Ressourcen darauf verschwende, den Weltraum zu erforschen. So wenig ich für die Musks und Bezos’ der Welt übrig habe, ging mir die vollständige Ablehnung von Weltraumexploration immer zu weit, und Emrys lässt eine der NASA-Wissenschaftler*innen artikulieren, warum:
[T]here’s a symbiosis between space travel and planetary life, too. NASA has always done both. We learn things from research in a different environment, or just from surviving the vacuum, that we bring back to Earth to make it livable.
Man verrät nicht zu viel, wenn man schreibt, dass sich schnell eine Kompromisslösung zwischen der Vision der Ringers und der der watersheds als wünschenswert herauskristallisiert, die zu erreichen dann Judys eigentliche Herausforderung wird. Emrys — auch hier muss man an Le Guin denken, die The Dispossessed, ihrer Vision einer anarchistischen Gesellschaft, den Untertitel »an ambiguous utopia« gab — sieht ihre Utopie nicht als »Endstadium«, als das statische, endgültige Ziel von Veränderung; die Offenheit für weitere Veränderung, die Bereitschaft, sich weiter selbst zu hinterfragen, muss Teil eines wirklich utopischen Gesellschaftsentwurfs sein.
Es sind nicht nur verschiedene Ideen über die Zukunft der Menschheit, die Konflikt zwischen den Parteien verursachen: Ein faszinierender thematischer Strang des Romans sind die verschiedenen Konzeptionen von Gender, Geschlechterrollen und Familienmodellen. Der Umgang der watersheds mit Gender ist so utopisch wie der mit der Natur: Zu einer »normalen Kindheit« gehört hier — wenn man sich nicht gleich für eine genderneutrale Erziehung entscheidet — mindestens, dass die Eltern einen alternativen Namen in der Hinterhand behalten, falls das Kind sich am Ende mit einem anderen Geschlecht identifiziert als dem angenommenen. Die Frage nach Pronomen ist so selbstverständlich wie die nach Namen, queere Patchworkfamilien und Beziehungsmodelle jenseits der monogamen Heterobeziehung sind der Standard, und niemand scheint mehr wegen seinem Geschlecht diskriminiert oder weniger ernstgenommen zu werden.
Die Ringers dagegen haben eine matriarchale Gesellschaft. Mutterschaft bedeutet Autorität — dass die Ringers Judy als Vertreterin der watersheds bevorzugen, obwohl die Community (und Judy selbst) am liebsten qualifiziertere Diplomat*innen entsenden würden, liegt an dem Zufall, dass Judy bei der ersten Begegnung ihr Baby auf dem Arm hatte. Bei den Ringers ist das diplomatische Tradition: Kinder symbolisieren Mutterschaft und damit Stärke, und, so die Theorie, sie entschärfen die Situation, erinnern alle Parteien daran, für wen sie hier eigentlich verhandeln. Männliche Ringers haben in dieser Gesellschaft eine untergeordnete Rolle — es ist etwa ein kleinerer Skandal, wenn im Laufe des Buchs ein männlicher Außerirdischer Judys Baby halten darf. Für Judy ist das ein weiterer Grund, skeptisch gegenüber dem Angebot der Ringers zu sein: So, wie beim Klimaschutz, hat sie auch beim Thema Geschlechtergerechtigkeit das Gefühl, dass die Menschheit gerade erst die Kurve gekriegt hat, gerade erst auf dem Weg der Besserung ist; könnte sich den Ringers anzuschließen einen Rückschritt bedeuten?
Die Anhänger*innen der Konzerne gehen auch hier ihren eigenen Weg: Bei ihnen hat sich eine radikale Trennung zwischen Familien- und öffentlichem Leben durchgesetzt. Dazu gehört auch, dass Gender in der Öffentlichkeit ausschließlich Performance ist, vollständig abgekoppelt von dem Geschlecht, mit dem man sich vielleicht im Privaten »identifiziert«. Die Angestellten »spielen« buchstäblich (manchmal mehrmals) täglich ein anderes »Gender«. Jede der diversen, wenig mit unserer Konzeption von »Geschlechtern« zu tun habenden Gender-Rollen geht mit spezifischen Verhaltensmustern und Kleidungsstilen einher. Ziel des für Judy (und wohl die meisten Leser*innen) einigermaßen ermüdend wirkenden »Spiels« ist, das sagen die Angestellten einigermaßen offen, den eigenen Einfluss zu vergrößern, die eigene Position in der Hierarchie des Konzerns zu verbessern.
Das wahre Genie von Emrys Roman, das, was A Half-Built Garden wirklich in der Liga von Le Guin mitspielen lässt, ist dass Emry nicht nur gleich mehrere faszinierende Gesellschaften der Zukunft entwirft, sondern auch glaubhaft aufzeigt, wie die Systeme, Technologien und Ideologien dieser Gesellschaft die Menschen (oder Außerirdischen), die in ihnen Leben, verändert. Judy, deren Eltern aktiv in der Revolution und der Errichtung der watersheds und dandelion networks waren, ist in die Ideologie der watersheds geboren und mit ihr aufgewachsen, und das prägt ihr Denken und Fühlen. Wenn etwa das Chesapeake-Netzwerk gehackt wird und eine Weile nicht verfügbar ist, hat das einen Effekt auf sie, der eher einer psychologischen Verletzung ähnelt als, sagen wir, dem Verlust eines Smartphones. Sie fühlt sich »naked and brainless«:
Normally the neighborhood offered layers to be read: auras of discussion and commentary and history. I could dive into upcoming repairs, stories behind flags, whether trees were blooming early or late. I’d feed in my own observations and judgments, too. Without that interaction, the world felt oddly shallow.
Nicht nur können wir Menschen eine andere Welt schaffen, legt Emrys nahe, diese Welt wird letztlich wiederum andere Menschen schaffen. Stellenweise ist es schwierig beim Lesen, den eigenen Zynismus abzustellen: Ist es wirklich glaubhaft, dass die Ringers von den Bewohner*innen der watersheds fast ausschließlich positiv aufgenommen werden — ohne Misstrauen, ohne Angst oder Ekel vor dem Fremden? Aber andererseits: Würden wir in einer Gesellschaft leben, in der Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen so zentral sind, in der jede*m von uns selbstverständlich, unabhängig von »Leistung«, ein Dach über dem Kopf, Nahrung und medizinische Versorgung zustehen — würde uns das nicht verändern, würde es nicht genau dazu führen, dass unser erster Reflex, wenn wir jemandem Fremden begegnen, Gastfreundschaft und Vertrauen wären?
Das ist, woraus Emrys letztlich ihre Hoffnung auf eine bessere Welt zu schöpfen scheint, und sie greift damit eine Idee auf, die uns in der politischen Linken in den letzten Jahren ein wenig verloren gegangen ist. Ein zentrales Argument für die angebliche Endgültigkeit, die Alternativlosigkeit des Kapitalismus ist die Idee, dass seine Werte auf der »Natur des Menschen« basierten: Weil der Mensch von Natur aus »nun mal so ist« — egoistisch, misstrauisch, rücksichtslos —, weil Hierarchien und das Recht des Stärkeren nunmal der Weg der Natur seien, kann der Mensch sich nur in einem System organisieren, in dem das Streben nach persönlichem Profit belohnt wird, in dem es Gewinner und Verlierer gibt und in dem jede*r in letzter Konsequenz auf sich allein gestellt ist.
Das Gegenargument muss lauten, dass hier Henne und Ei vertauscht wurden: dass ein ungerechtes System, das Egoismus und unsolidarisches Verhalten belohnt, uns erst egoistisch und unsolidarisch macht; und dass umgekehrt ein gerechteres, auf Solidarität und Vertrauen basierendes System dazu führen wird, dass auch wir uns solidarischer verhalten, einander unterstützen anstatt nur den eigenen Vorteil zu suchen. Diese Annahme ist Voraussetzung für das Funktionieren so ziemlich jedes linken Konzepts, und wer verfolgt hat, wie auch und gerade dem Selbstverständnis nach »Linke« in den letzten zwei Jahren das Narrativ der rücksichtslosen, unsolidarischen Masse mitschrieben, bekommt eine Idee davon, warum die politische Linke derzeit so wenig bewegt.
Emrys’ Roman ist nicht »realistisch«, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es etwa Robinsons Roman ist. Die Autorin betont zwar in einem Nachwort, dass die meisten Technologien des Romans, zumindest in Grundformen, bereits existieren; dennoch geht es ihr hier natürlich nicht darum, eine akkurate »Vorhersage« zu machen — oder eine exakte Blaupause zu liefern —, wie eine postkapitalistische Welt aussehen könnte, und auch in Best-Case-Szenarien wird unsere Zukunft sicher anders aussehen als Emrys in ihrem Roman spekuliert.2 Aber in diesem einen Punkt ist A Half-Built Garden dann doch ziemlich realistisch, dieses eine Element ist unumgänglich: Wenn wir eine andere Welt wollen, uns ein »Ende des Kapitalismus« vorstellen wollen, müssen wir zunächst unsere falschen Ideen von der »Natur des Menschen« überwinden; wie die Organisation der watersheds und die Technologie der dandelion networks muss jeder realistische Gegenentwurf davon ausgehen, dass Menschen, unter den richtigen Bedingungen, rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst handeln, muss statt Konkurrenzdenken und Egoismus gegenseitiges Vertrauen und Solidarität belohnen.
Danke fürs Lesen! Wenn dir dieser Text gefallen hat und Du mehr über utopische Science-Fiction lesen willst, lies doch mal in mein Review über die Apple-TV-Serie For All Mankind.
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…und generell dieses Gefühl, dass wir am Ende von etwas sind, dass die bestehende Ordnung zusammenzubrechen droht.↩︎
Einige Elemente von Elrys Vision — wie die Gewichtung der Stimmen einzelner Bewohner*innen der Watersheds durch Algorithmen — finde ich sogar mindestens ein Bisschen gruselig, und wir sehen im Verlauf des Romans auch, wie auch dieses System fehleranfällig ist.↩︎
August 19, 2022 buch literatur sci-fi science fiction ruthanna emrys kim stanley robinson ursula k le guin the ministry for the future text
Reviews: Bullet Train, Gladbeck, Kimi & mehr
Hier ein paar kürzere Reviews zu neuen und älteren Filmen und einem Buch, für die ich nicht jeweils einen eigenen Post anlegen will.
Bullet Train ist nicht gut, aber Züge schon
Bullet Train hat mich etwas über mich selbst gelehrt: Ich mag Züge. Sehr. Ich mag Züge, und ich mag Filme, die in Zügen spielen, von Murder on the Orient Express1 über Before Sunrise zu Snowpiercer. Ich hab sogar vage angenehme Erinnerungen an den einen Liam-Neeson-Film, der im Zug spielt, obwohl (oder weil) ich außer »Liam Neeson spielt mit und der Film spielt im Zug« kein anderes Detail darüber nennen könnte wenn mein Leben davon abhinge.
Für Bullet Train bedeutet das konkret: Das sollte mich alles nerven. Auf kaum etwas habe ich noch so wenig Lust wie auf das, was David Leitch, nach einem Drehbuch von Zak Olkewicz, hier macht, dieses Lucky-Number-Slevin-Ding, Tarantino auf Wish bestellt2, Auftragskiller, die zwischen Explosionen von Gewalt Quips und Popkulturreferenzen austauschen und so. Einer der keine-Ahnung-wieviele Killer im Film redet ständig über Thomas the Tank Engine, und das wird nicht, also wirklich gar nicht, irgendwie aus der Figur heraus gerechtfertigt, es ist einfach die Wort-Assoziation »Film-spielt-in-einem-Zug -> Thomas-the-Tank-Engine-ist-ein-Zug«. Am Ende erhält »The Water Bottle« eine coole Intro-Sequenz und Backstory, so wie vorher »The Wolf« und »The Father« und die ganzen anderen coolen Killer mit coolen ihre eigene coole Intro-Sequenz bekommen haben. Es ist die Sorte Humor, die man früher mit »lol so random« beschrieben hat. Brandon Streussnig hat es schon sehr treffend beobachtet: Es ist, als hätte Deadpool-2-Regisseur Leitch Ryan Reynolds’ Persönlichkeit auf einen ganzen Film (und eine Handvoll eigentlich ziemlich okay Schauspieler)3 verteilt.4
Aber, und ich kann das nicht genug unterstreichen: Das alles passiert in einem Zug. Und das reicht mir irgendwie, das kriegt mich ein Bisschen, sorry.
OK, Bullet Train ist nicht ganz frei von legitimen Qualitäten: Leitch, Co-Regisseur von John Wick, ist gut darin, hand-to-hand-Kampfchoreographien in engen Räumen zu inszenieren, und er macht hier ausführlich Gebrauch von diesem Talent. Ich mag den Look des Films, farbenfroh ohne, mit wenigen Ausnahmen, zu überstilisiert zu sein. Und, natürlich, der Cast — so sehr Leitch und Olkewicz sich auch anstrengen, ganz können sie den Charme ihrer Darsteller*innen nicht abstellen.
Aber nichts davon ist genug, dass ich Bullet Train irgendjemandem empfehlen würde, der weniger begeistert von Zügen ist als ich. Irgendwie wirkt der Film gleichzeitig sehr »2022« — die zwanghafte self-awareness aller Beteiligten, der vielleicht von Taika Waititi inspirierte (und schon da nicht lustige) Running-Gag, gewalttätige Gangster Mental-Health- und Achtsamkeitssprache abspulen zu lassen — und wie ein Film, der seit den späten 90ern/frühen 2000ern in irgendeiner Vault liegt.5 Es ist schon alles sehr anstrengend, und man spürt jede einzelne der 126 Minuten Laufzeit. Aber, keine Ahnung, am Ende ist diese Art Film schauen für mich wohl ein Bisschen wie eine lange Reise machen: Immer irgendwie anstrengend, aber doch angenehmer, wenn es im Zug stattfindet.
Gladbeck — Die Geiselnahme: wichtiges Zeitdokument oder nur weiterer True-Crime-Content?
Ich verkneife mir hier, McLuhan zu zitieren, aber es ist schon interessant, einen Film wie Volker Heises Gladbeck — Das Geiseldrama ausgerechnet auf Netflix zu gucken. Ein Film, der anklagt, wie Journalist*innen aus einem Verbrechen — der, nun 1988er Geiselnahme von Gladbeck — das drei Tote forderte, Content machten, und wie eine Bevölkerung diesen Content als Entertainment konsumierte. Dieser Film, anwählbar neben dutzenden anderen Filmen und Serien, die genau das im hier und jetzt tun: Verbrechen als Content verwerten, damit ein Streaming-Service in akuter Bedrängnis holen kann, was zu holen ist aus dem True-Crime-Trend.
Aus Netflix’ Perspektive ist Gladbeck natürlich Teil dieser Strategie. Das ist Heise nicht vorzuwerfen, aber ich finde es schwer auszublenden: Netflix hat sicher nichts dagegen, dass Menschen Gladbeck als ein Zeitdokument gucken und einen Film über unsere Tendenz, das Leid anderer zu unserer Unterhaltung zu machen; aber ich glaube, die Zielgruppe, die Netflix, anders als der Regisseur, vor allem mit diesem Film erreichen will, sind diejenigen, für die Gladbeck nur ein weiteres Stück True Crime ist, für die der Film heute erneut genau die Funktion erfüllt, die das Geiseldrama schon damals für Medien und Bevölkerung hatte.
Ich hatte ziemlich genau die Reaktion auf Gladbeck, die Heise sich wünscht: Empörung, Fassungslosigkeit, und ein guter Schuss Introspektion, denn ich hab mir das ja auch angeguckt, obwohl ich im Wesentlichen schon Bescheid wusste, was damals passiert ist. Insofern »funktioniert« der Film: Auch, wenn man »schon Bescheid weiß«, ist es eindrucksvoll, das mehrtätige Geiseldrama nochmal im Zeitraffer nachzuvollziehen. Heise arbeitet ausschließlich mit Archivmaterial, und ausschließlich mit Material, das direkt während dieser 54 Stunden entstanden ist, die die Geiselnahme von Gladbeck dauerte (nicht zum Beispiel mit nachträglichen Aufarbeitungen, die es ja durchaus gab). All das bekannte Material ist da — die Interviews mit den Tätern, die Glamour-Shots von Fotograf Peter Meyer, der zeitweise die Rolle eines eher unterqualifizierter Vermittlers mit den Geiselnehmern einnahm —, aber auch weniger bekanntes, das teils direkt an das bekannte anschließt und so dessen Entstehung erzählt. Die Montage ist akribisch und effektiv, und wer grundsätzlich zu Reflexion bereit ist über Medien und ihren Konsum, über deren (und die eigene!) eigene Lust an der Sensation, der wird in diesem Film viel Anlass dazu finden.
Aber irgendwie frage ich mich auch…wozu das ganze? Es ist ja nicht so, als hätte noch gar keine Reflexion über Gladbeck, auch kollektive, stattgefunden. Es gibt zig Fernsehdokumentationen (und mindestens einen ARD-Spielfilm), Talkshows thematisierten das Drama und die Rolle von Journalismus und Medien, geschrieben wurde darüber sowieso, der deutsche Presserat änderte seine Richtlinien…was leistet ein Film wie der von Heise, der selbst nicht einordnet, im Jahr 2022 noch? Er archiviert das Geschehene und das Material, schätze ich, und sicher werden viele Netflix-Zuschauer*innen sich dank dem Film zum ersten Mal mit dem Drama beschäftigen, und natürlich werden nicht alle es nur als weitere True-Crime-Story wahrnehmen, viele wird es auch zu derselben Art Reflexion inspirieren wie mich. Aber wenn man sich 2022 nochmal mit diesem ausführlich bearbeiteten Thema beschäftigen will — vor allem in einem Netflix-Film — gäbe es da nicht interessante Fragen darüber zu stellen, inwiefern genau die Tendenzen, denen Medien und Bevölkerung damals so ungezügelt nachgaben, auch heute noch da sind? Es ist leicht, auf Gladbeck als eine Episode von Massenhysterie zu blicken, als eine Ausnahmesituation, aber interessanter ist es vielleicht, den Gedanken zuzulassen, dass das Verhalten der Medien damals eigentlich ganz normal war, dass sie damals nur ein Bisschen schamloser (ehrlicher?) waren?
Heise will, glaube ich, dass man sich genau diese Fragen beim Schauen stellt, dass man die Linie zieht von dieser Episode zum heutigem True-Crime-Boom. Aber sein Ansatz wird niemanden dazu bewegen, solchen Gedanken nachzugehen, der es nicht eh schonmal getan hat, und vielleicht ist das ein Bisschen eine verpasst Chance, wenn man einen Film über das Geiseldrama von Gladbeck im Jahr 2022 auf Netflix veröffentlicht.
Kimi: Rear Window, Covid-Edition
Gegen Ende von Steven Soderberghs Kimi wird Zoë Kravitz’ Angela, die so heißt und nicht Kimi aber von der ich für den Rest meines Lebens, wann immer ich einen Still des Films sehe, denken werde, »Ahh, da ist sie, Kimi selbst!«, wird also Angela von ein paar Shady Typen(tm) gejagt und muss, in einem nervenaufreibenden Moment, mit zitternder Hand beide Schlösser ihrer Wohnungstür aufschließen, bevor die Typen sie erreichen. Soderbergh ist hit-and-miss für mich, seine irgendwie beiläufige Virtuosität wirkt auf mich manchmal kühl und seltsam unbeteiligt an dem, was seine Filme erzählen. Aber Kimi ist einer der Filme, in denen ihm dieser spezifische Soderbergh-Zaubertrick gelingt: Der Film wirkt wie ein spontanes, im Vorbeigehen weggefilmtes Projekt, ein Versuch, aus den Umständen (hier: den Covid-Auflagen) das beste zu machen, und ist entsprechend unprätentiös und schnörkellos; und gleichzeitig ist es ein Film, in dem fast jede Einstellung, jedes visuelle Detail, jede Geste Gewicht hat, symbolisch oder thematisch oder whatever aufgeladen ist — nur eben ohne, dass das den unmittelbaren Zielen des Films als ein unscheinbarer, aber mitreißender Crowdpleaser im Weg stehen würde.
Die Idee, die sich durch den Film zieht, ist dass die Technologien — die primitiven wie die fortschrittlichen —, und manchmal sogar die Menschen, die uns beschützen sollen, uns gefährlich werden können (und umgekehrt). Unsere »digitale Assistentin« (oder wie auch immer man Siri, Alexa und Co. nennen möchte) können uns das Leben erleichtern und im Ernstfall Hilfe rufen, aber sie nehmen uns auch ein Stück Privatsphäre, hören uns zu, nehmen uns unbemerkt auf und schicken die Aufnahmen wer-weiß-wohin; unser Nachbar, von dem wir uns beobachtet fühlen, kann der einzige sein, der es mitkriegt, wenn wir Hilfe brauchen; unser Sicherheitsschloss beschützt unser Hab & Gut — und kann uns entscheidende Sekunden kosten, wenn wir plötzlich ausgesperrt sind und von Shady Typen(tm) verfolgt werden. Die kleinen Momente dramatischer Ironie, die dieser Gedanke in Soderbergh immer wieder inspiriert, sind eins der größten Vergnügen von Kimi.
Der Plot ist Rear Window, remixed für 2020: Angela Childs leidet an Agoraphobie, ausgelöst durch einen Überfall, verschlimmert durch die Covid-19-Pandemie. Sie arbeitet für den Hersteller einer Alexa-ähnlichen Smart-Speaker-Systems, genannt Kimi. Ihr Job besteht darin, Aufnahmen abzuhören von Kund*innen-Interaktionen mit Kimi, in denen das System fehlerhaft reagiert hat, und Korrekturen in der Software vorzunehmen. Auf einer der Aufnahmen ist anscheinend eine Gewalttat zu hören. Beim Versuch, die Identität des Opfers herauszufinden, legt Angela sich mit ihren Vorgesetzten an und deckt neue, shady Details über die Geschäftspraktiken ihres Arbeitgebers auf.
Das ganze ist äußerst ökonomisch erzählt: Kimi ist nur knapp 90 Minuten lang, und hat einiges unterzukriegen in diese Zeit, wächst sein Plot doch von einem persönlichen, charakterfokussierten Crime-Drama zu einer Art Verschwörungsthriller. Der Film bleibt auf eine Weise dennoch angenehm klein: Er verliert nie die Nähe zu seiner Protagonistin, erzählt konsequent aus Angelas Perspektive, die schon bevor sie ins Visier ihres übermächtigen Arbeitgebers gerät zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist, um allzu große Ideen und starke Meinungen über die Themen zu haben, die der Plot des Films anschneidet, Überwachung, Sicherheit, unser Verhältnis zu Technologie (und zu den Firmen, die sie herstellen). Stattdessen werden diese Themen Teil des Hintergrundrauschen des Films, ebenso wie die Pandemie und ihr Einfluss auf Angelas geistige Gesundheit, und wie weitere Details über Angela als Figur, wie etwa ihr Autismus und ihre Beziehung zu ihrer Mutter. All diese Details und Ideen belasten den Film nicht, nehmen ihm nichts an Geradlinigkeit, an Tempo, stören das Pacing nicht; sie funktionieren lediglich als Angebote an den*die Zuschauer*in — man kann hier schon über einiges Nachdenken, wenn man denn unbedingt will, aber Kimi fordert das nicht von seinem Publikum; vor allem aber geben sie Soderberghs Plot und seiner Hauptfigur eine Spezifizität, sodass es halb so wild ist, dass die Geschichte weitgehend erwartbaren Beats folgt.
The Laundromat: The Big Short, Panama-Paper-Edition?
Wie gesagt: hit & miss.
Soderberghs Film inspiriert von den Panama Papers sollte wohl sowas sein wie Soderberghs The Big Short: ein episodischer, bitter-komischer Film, der dem*der Zuschauer*in einen komplexen Finanzskandal — hier das System von off-shore Strohfirmen (shell companies), das Steuervermeidung und -hinterziehung, Versicherungsbetrug, Geldwäsche und andere Finanzverbrechen begünstigt — begreiflich und die Folgen für normale Menschen spürbar macht. Wie in Adam McKays Film brechen Figuren die vierte Wand, sprechen direkt zum Zuschauer, wie bei McKay sollen ein hochkarätiger Cast und komische Überzeichnung dem Publikum das eher trockene Thema schmackhaft machen.
Aber wo McKay einen Ton aufrichtiger Entrüstung findet ist Soderberghs Ton eher ein süffisant-amüsiertes Schulterzucken. Während McKays Figuren dem Zuschauer aus der Seele sprechen, wenn sie sich Richtung Kamera drehen, lenken Soderberghs Erzähler — die Chefs einer der Anwaltskanzleien im Zentrum der Panama Papers — eher ab von den Geschichten der Leidtragenden, die Soderbergh dazwischen erzählt. Am besten ist The Laundromat, wenn er sich auf Meryl Streeps Figur konzentriert, eine unscheinbare Witwe, deren Geld aus der Lebensversicherung ihres Mannes im Gewirr aus Strohfirmen und Rückversicherern »verloren gegangen« ist, und die auf eigene Faust versucht, der Sache nachzugehen. Leider geht diese Geschichte zu oft unter in Soderberghs Meta-Spielereien und seiner Ambition, ein Bild des ganzen Ausmaßes des Skandals zu zeichnen, die an sich ja lobenswert wäre, aber in der Praxis eher wie ein Mangel an Konzentration auf das Wesentliche daherkommt.
Tamara Shopsins LaserWriter II: Eine andere Beziehung zu Technologie
Zum Geburtstag habe ich mir dieses Jahr einen Raspberry Pi 400 gekauft. Es ist der preiswerteste Computer, den ich je besessen habe, aber irgendwie auch der luxuriöseste, im Sinne von: Ich brauch das Ding eigentlich nicht. Also, ich werd da schon mehr oder weniger sinnvolle Anwendungen für finden, aber gekauft hab ich ihn wirklich nur, weil ich ihn wollte, und anders als jeden Computer außer meinem allerersten, den ich mit 9 oder so bekommen habe, nichtmal ein kleines Bisschen, weil ich ihn brauchte. Seitdem habe ich ganze Tage damit verbracht, Dinge unter Linux ans Laufen zu kriegen, die ich auf meinen Mac-Geräten mit zwei Klicks hinkriege, und das ist das nächste zu »Urlaub«, was ich in den letzten 8 Jahren gemacht hat.
Ich mag Computer, das ist mir so nochmal gewusst geworden. Das klingt banal, aber die Computer, die ich täglich zum Arbeiten nutze sind halt keine Computer, die man so vorbehaltlos mögen kann: Darauf ist Slack installiert und die Apps diverser sozialer Netzwerke und man weiß vor allem auch, unter welchen Bedingungen sie hergestellt werden. Ich mag das irgendwie, einen Computer zu besitzen, den ich (relativ) schuldfrei benutzen und als Fetischobjekt betrachten kann. Apropos: Der 400, der erste Raspberry Pi, der nicht nur ein nackter Prozessor, sondern ein vollständiger Desktop-Computer ist, eingebaut in eine Tastatur, gefällt mir auch einfach als physisches Objekt. Weißes und rotes Plastik, das erinnert an die Designsprache, die Apple lange hinter sich gelassen hat, zugunsten der heutigen, sleeken, »professionellen« Ästhetik. Ich trauere dieser Zeit ein Bisschen hinterher: als Computer wie Spielzeuge aussehen durften, als Design opinionated war und man auch in Kauf nahm, dass eine solch, sagen wir, laute Designsprache eben genauso viele Leute abschreckt wie sie anzieht.
Tamara Shopsins LaserWriter II ist ein Buch, geschrieben für eine bestimmte Art Mensch. Wer keine starken Emotionen über Dinge wie »die Designsprache alter Macintosh-Computer« hat, wer Computer vor allem als Nutz- und so gar nicht als Fetischobjekte sieht, dürfte es ziemlich langweilig finden. Es passiert im Grunde gar nichts, außer dass Figuren alte Apple-Rechner und -Drucker reparieren. Ich, das kann man sich aus der Einleitung dieses Textes sicher zusammenreimen, hätte 900 Seiten davon lesen können.6
Shopsin fiktionalisiert in diesem Roman ihre eigene Zeit als »Tek« im New Yorker Mac-Reparatur-Shop TekServe. Wir sehen den Mikrokosmos des Stores durch die Augen der 19jährigen Claire, die zunächst im »Triage«-Bereich, also dem Empfang anfängt, aber schnell zur Spezialistin für die Reparatur von Laserdruckern befördert wird. Wir beobachten Claire beim Umgang mit Kunden (awkward, unbeholfen), und dem Reparieren der Geräte (eine Art Zen-Zustand für sie) dazwischen gibt es eine kurze Geschichte von TekServe, ein paar Exkurse über die Bedeutung einzelner Apple-Geräte (wie der titelgebenden »LaserWriter«-Serie von Druckern, die im Grunde der Beginn des Desktop Publishing war), und ein paar quirky Sequenzen, die aus der Perspektive von Bauteilen der Drucker erzählt sind. Alles geschrieben in knapper, aber dennoch warmer und pointensicherer Prosa. Wie gesagt: Muss man mögen, sowas.
Ich mag’s, und zwar nicht nur, weil es meinen Computer-Fetischismus validiert hat; daneben hatte es auch einen ähnlichen Effekt wie zuletzt die seltsam untergegangene, hervorragende deutsche Netflix-Serie Billion Dollar Code: Es erinnert daran, dass »Tech« nicht immer und ausschließlich synonym mit Startup-Kultur, Turbokapitalismus, Silicon Valleys fragwürdiger Definition von »Innovation« war. Es gab eine Zeit, oder es gab Episoden und Ecken der Technologie-Geschichte, da waren es vor allem Künstler*innen, Hippies und Hacker, die von Technologie angezogen wurden, weniger smoothie-trinkende Business-Bros. Billion Dollar Code zeigt, wie ein ursprünglich in der Berliner Kunstszene und der Hacker-Kultur der frühen 90er Jahre verwurzeltes Unternehmen durch die Ideologie des Silicon Valley korrumpiert wird. Shopsins Roman, wie ein unabhängiger, von leidenschaftlichen Bastlern geführter Shop, in dem die Zufriedenheit der Kund*innen und schlicht die Liebe zur Technik selbst größere Motivationen sind als finanzieller Gewinn, letztlich verdrängt wird von Apples »Genius Bar«-Modell, ein Modell, das weniger persönlich ist, stärker durchreglementiert und in dem wenig Platz ist für die persönlichen Geschichten, die Menschen mit Technologie verbinden. Man muss beim Lesen unweigerlich an die »Right to Repair«-Bewegung denken: In Shopsins Tekserve ist es eine Frage der Ehre, dass wirklich alles versucht wird, um so viel Leben wie möglich aus den Geräten der Kund*innen herauszuholen; es ist selbstverständlich besser, ein altes Gerät noch einmal aufzufrischen, als den Kauf eines neuen zu empfehlen.
Trotz aller Fetischisierung klassischer Macintosh-Computer und Apple-Drucker taucht Apple, der Konzern, in Shopsins Buch also vor allem als Villain in Erscheinung: Die TekServe-Philosophie, so der Subtext, steht im Widerspruch mit der immer knapper getakteten geplanten Obsoleszenz moderner Technik, und so macht Apple TekServe letztlich schrittweise selbst obsolet. Sie schaffen für unabhängige Stores wie TekServe die Möglichkeit ab, Ersatzteile zu bestellen, untersagen so effektiv das eigenmächtige Reparieren der Geräte.
TekServe schloss 2016, nach fast 30jähriger Geschichte. Ich weiß nicht, ob der Laden wirklich der maximal kundenfreundliche, großzügige, aus der puren Liebe zur Technik und dem Menschen, der sie benutzt heraus betriebene Ort war, als den Shopsin ihn zeichnet. Ist aber auch egal: Shopsins Roman taugt in jedem Fall als eine kleine Utopie, eine Geschichte, die daran erinnert, dass unsere Beziehung zu Technologie eine andere sein könnte als sie heute oft ist.
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Die Sidney-Lumet-Version. Die, ähem, sicher auch interessante Kenneth-Branagh-Version hab ich noch nicht gesehen.↩︎
Ist das der richtige Zeitpunkt, zuzugeben, dass ich noch immer nicht genau weiß, was »Wish« ist und warum es ein Fehler ist, da zu bestellen?↩︎
Und Brad Pitt.↩︎
Auch mit »All timer bad shit from Zazie Beetz in particular.« hat Streussnig leider Recht.↩︎
Siehe hierzu vor allem den befremdlichen Gastauftritt von Channing Tatum, der in Anlehnung an, keine Ahnung, den Humor früher South-Park-Staffeln die Frage konfrontiert, »Wäre es nicht witzig, wenn Channing Tatum schwul wäre?«↩︎
Leider hat das Buch nur etwa 200.↩︎
August 15, 2022 review kritik film buch literatur netflix deutsch text
Nope — Ending (too) explained
Dieser Text enthält Spoiler für Nope.
»Every animal has rules«. Otis »OJ« Haywood Jr. (Daniel Kaluuya) sagt das gegen Ende des zweiten Akts von Jordan Peeles Nope, und es bringt eine Art Wendepunkt: OJ glaubt, die »Regeln« des mysteriösen, wahrscheinlich außerirdischen Monsters verstanden zu haben, das er und seine Schwester Emerald (Kiki Palmer) in den Wolken über der gemeinsamen Ranch entdeckt haben. Von jetzt an können die beiden und ihre Mitstreiter in die Offensive gehen.
OJ fasst hier aber auch kurz und bündig zusammen, warum Nope für mich im dritten Akt an Faszination verliert und nicht mit Peeles Vorgängerfilmen, Get Out und vor allem dem brillanten, endlos faszinierenden Us, mithalten kann. Peele nimmt diese Idee — »every animal has rules« — ein Bisschen zu buchstäblich, formuliert diese Regeln ein Bisschen zu konkret aus, und das nimmt seinem Film rätselhafte, das seltsame, das Unheimliche.1
OJ und Emerald haben die Ranch von ihrem Vater Otis Sr. (Keith David) geerbt. Die Haywoods behaupten, von dem unbekannten Jockey abzustammen, der das Pferd in Eadweard Muybridges Animal Locomotion reitet, dem wohl ersten Filmmaterial der Geschichte. Die Haywoods trainieren und betreuen Pferde für Filmproduktionen. Seit dem 2001er The Scorpion King finden sie jedoch nur noch selten Arbeit. OJ verkauft deswegen einige Pferde an Ricky “Jupe” Park (Steven Yeun), ein ehemaliger Kinderstar, der nun einen kleinen Freizeitpark basierend auf seinem größten Erfolg leitet. Neben dem Cowboy-Film, von dem der Park inspiriert ist, ist es vor allem seine Hauptrolle in der Sitcom Gordy’s Home, für die Jupe noch einen Rest Bekanntheit hat, allerdings aus eher makabren Gründen: Einer der Schimpansen, die den titelgebenden Gordy spielten, geriet während der Aufnahme einer Folge in Rage, und tötete oder verletzte die anderen Cast-Mitglieder. Nur Jupe überlebte unbeschadet.
Als die Haywoods in den Wolken über ihrer Ranch ein mysteriöses, (auf den ersten Blick) untertassenförmiges Objekt entdecken, sehen sie eine Chance: Sie wollen das Objekt auf Video festhalten, das Bild einfangen, dass sie »zu Oprah« bringen, zu Stars machen wird.
Für gut die erste Hälfte von Nope ist es ein eher subtiler Horror, den Peele hier kreiert. Es gibt ein paar klassische »Schockmomente«, spwpjö kleine, blinzelt-und-ihr-verpasst-sie Momente, wenn wir etwa das fliegende Objekt von einer Wolke zur anderen huschen sehen und gemeinsam mit OJ und Emerald verstehen, dass es sich nicht um ein Raumschiff, sondern ein Lebewesen handelt, als auch größere, spektakulärere, wie wenn Jupe eine Show und das Publikum einer Show in seinem Park von dem Monster attackiert werden. Aber vor allem ist es ein unter allem liegendes Gefühl von Unwohlsein, das Peele hier kreiert und das dem Film seine Spannung gibt. Nope ist der erste Horrorfilm, der in 65mm IMAX gedreht wurde, und Peele komponiert viele Einstellungen, die für den riesigen IMAX-Bildschirm gemacht scheinen, die die Weite und Leere der kalifornischen Wüste einfangen, und die viel Raum lassen für die Vorstellungskraft der*des Zuschauer*in — Peele muss das Monster gar nicht oft zeigen, wir malen uns im Kopf schon selbst aus, wo es sich gerade verstecken könnte. Die Welt des Films hat eine seltsame Zeitlosigkeit: Er spielt schon irgendwie im Hier und Jetzt — es gibt etwa moderne Technologie — aber Elemente wie Jupes Freizeitpark scheinen aus einer anderen, unschuldigeren Zeit gefallen. OJ ist der ideale Point-of-View-Charakter für die Welt und Atmosphäre, die Peele hier kreiert: Er hat selbst etwas enigmatisches, will, scheint es, niemanden so ganz an sich ranlassen — inklusive dem Zuschauer. Kaluuya, in einer brillanten Performance, für die er seine gesamte Physiognomie zu verändern scheint, suggeriert, dass OJ immer über irgendetwas nachdenkt, irgendetwas in den Wolken oder der Weite der Wüste sieht, das wir noch nicht gesehen haben. Yeun liefert eine weitere seltsam-faszinierende Performance: Jupe hat die Attacke durch »Gordy« überlebt, aber sie hat ihn verändert, scheint es, und die Person, die er heute ist, ist so sehr eine Rolle die er spielt wie seine Figuren in Gordy’s Home und Kid Cowboy (oder wie der Kinderfilm hieß).
Vieles in diesem Film und in seiner Welt scheint einfach ein Bisschen off. Die Atmosphäre, die Peele hier schafft, erinnert an die besseren Geschichten von H.P. Lovecraft: Es ist kosmischer Horror, das Gefühl, Teil von etwas größerem, älterem zu sein — oder wenigstens von so etwas beobachtet zu werden —, das man nicht versteht und nie ganz verstehen kann.
Auch die Attacke am Set von Gordy’s Home passt in dieses Bild. Wir erleben sie zweimal im Film — einmal, recht spät im zweiten Akt, als eine der furchteinflößendsten Sequenzen, die Peele bislang inszeniert hat, eine Explosion von Gewalt, in der der Affe (per Motion Capture gespielt von Tery Notary) zugleich wie eine unaufhaltbare Naturgewalt und erschreckend menschlich wirkt. Das andere Mal hören wir den Großteil der Szene nur, bis auf eine Einstellung, aus der Perspektive des jungen Jupe. Unter einem Tisch versteckt schaut er auf die Ergebnisse von Gordy’s Rage — darunter der auf dem Boden liegende, leblose Körper seiner Serienmutter —, fokussiert sich aber auf ein seltsames Detail: Einer der Schuhe seiner Serienschwester steht senkrecht, auf der Spitze, mitten auf der Sitcom-Bühne. Diese Version der Sequenz eröffnet den Film — wir können es noch nicht einordnen, aber ein kurzer Dialog aus Gordy’s Home, der dann durch die Explosion von Gewalt unterbrochen wird, ist das erste, was wir im Film hören, diese eine Einstellung das erste, was wir sehen, und dieses bemerkenswerte Detail, der stehende Schuh, wahrscheinlich das erste, was wir bewusst wahrnehmen. Dieses unheimliche, unerklärliche Detail setzt den Ton für den ganzen Film.
Wenn OJ dann also letztlich so klar darlegt, was die »Regeln« des Monsters sind — es greift dich nicht an, wenn du es nicht ansiehst, und der Weg, es zu besiegen, ist, es mit Gegenständen zu »füttern«, die es nicht herunterschlucken kann —, dann macht es den Film irgendwie…kleiner. Prosaischer, leichter zu fassen. OJ zeigt, dass man etwas, was lange unmöglich zu verstehen schien, eben doch ziemlich genau verstehen kann, und das nimmt dem Horror des Films seine kosmische, existenzielle Dimension.
Laut Presseinterviews sehen Peele und der Cast Nope als einen Film über unser Verhältnis zu »Spektakeln«, und viele Reviews und Analysen des Films nehmen diesen Faden dankbar auf. Natürlich ist das Filmgeschäft irgendwie ein Thema, und dann ist da ein thematischer Strang über Raubtiere und die Hybris, die in dem menschlichen Glauben steckt, sie kontrollieren zu können. Und man kann, irgendwie, in der am Ende recht prosaischen Natur des Monsters — OJ gibt ihm ganz bewusst den Namen eines Pferdes, das er gemeinsam mit seinem Vater trainiert hatte — einen Kommentar über die ebenso prosaische Wahrheit hinter den Spektakeln lesen, die Hollywood uns verkauft. Wenn man denn unbedingt will.2 Und ich weiß, man muss jetzt halt Artikel schreiben, auf die Leser*innen stoßen können, wenn sie »nope ending explained« googeln, das ist SEO 101, also ist schon okay, dass diejenigen, die in den Content-Mühlen arbeiten, nach den Brotkrumen greifen, die Peele ihnen zur Interpretation seines Films hinwirft.
Aber ganz ehrlich: Ich finde Nope auf dieser Ebene ziemlich unbefriedigend. »Menschen sind fasziniert von spektakulären Dingen« und »Hollywoods Spektakel sind nicht echt«, viel mehr lässt sich hier nicht aus dem Film ziehen. Peele wirft auch einfach zu viele Definitionen von »Spektakel« durcheinander — Blockbuster, klar, aber auch…Familiensitcoms, und 80er-Jahre-Kinderfilme? —, als dass bei solchen Leseversuchen irgendwas spezifischeres, fokussierteres rauskommen könnte als Allgemeinplätze. Und, damit wir uns verstehen, das ist völlig okay: Ich weiß nicht, ob man zu diesem Thema viel interessantere, originellere Gedanken haben kann, und es ist ja auch völlig okay, wenn ein Film nicht viel mehr will als dieses Gefühl von kosmischem Unwohlsein zu erzeugen, das Nope für große Teile seiner Laufzeit so erfolgreich erzeugt. Peele hat in Interviews auch davon gesprochen, dass er Nope vor allem selbst als Spektakel verstanden wissen will, als einen Film, den man im Kino sehen muss, gerade nach einer langen Zeit, in der man Filme nicht im Kino sehen konnte, und dass der Film nicht viel mehr »Message« oder whatever braucht, und ich finde, er hat Recht. Ich bin nicht mit dem Wunsch aus Nope gegangen, dass Peele sich mehr darauf konzentriert hätte, irgendwas mit seinem Film zu »sagen«.
Sondern, im Gegenteil, mit dem Wunsch, dass Peele uns, im Film selbst und in der Promotion, noch weniger Brotkrumen gegeben hätte. Mir ist das ending von Nope ein Bisschen zu explained. Ich habe den Film nicht mit diesem Gefühl von Verstörung und Verwirrung verlassen. Am Ende war nichts mehr off für mich, es passte alles ein Bisschen zu gut zusammen, es war alles ein Bisschen zu sauber, zu ordentlich, zu, auf eine oberflächliche Weise, befriedigend. Wie OJ, Emerald und ihre Mitstreiter am Ende gegen das Monster kämpfen, das hat mich an Jaws erinnert, wenn die Protagonisten den Hai »markieren«, indem sie mittels Harpunen ein paar Fässer an ihn hängen, ihn so sichtbarer, seine Bewegungen vorhersehbarer machen. Das ist jetzt nicht die schlechteste Referenz — Jaws ist mein erklärter Lieblingsfilm —, und natürlich eine relevante, wenn man in Nope unbedingt ein Statement über Spektakel oder Blockbuster oder was auch immer sehen will; aber ein solches Finale wirkt halt anders, je nachdem, ob die Bedrohung ein weißer Hai ist oder, sagen wir, Cthulhu, und so ähnlich wirkte es auf mich in Nope: Es machte etwas bis dahin schwer fassbares sehr konkret, greifbar, und zerstörte so die faszinierende Atmosphäre, die der Film bis dahin aufgebaut hatte — ohne sie mit etwas anderem, ebenso interessantem zu ersetzen.
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Dieses Problem ist übrigens nicht neu: Auch Get Out und Us haben ihre den-letzten-Akt-einleitenden exposition dumps. Dort wirkten diese allerdings mehr wie ein notwendiges Übel, man hatte das Gefühl, dass die Filme durch die vermittelten Informationen etwas gewannen anstatt, wie hier, etwas verloren.↩︎
Mit dem Strang über Raubtiere und Hybris oder whatever steht das Finale dann wiederum ziemlich in Konflikt, denn das »Raubtier« lässt sich hier einigermaßen einfach kontrollieren.↩︎
August 13, 2022 film review jordan peele sci-fi horror kritik deutsch text
Man kann Stigmatisierung nicht mit Stigmatisierung bekämpfen (oder: Ich flehe euch absolut an, reißt euch zusammen beim Thema »Affenpocken«)
»So viel zum Thema Eigenverantwortung🙄«, schreiben, leicht variiert, dutzende User*innen über den Post. Ich weiß nicht, ob sie glauben, damit eine originelle oder pointierte Beobachtung zu liefern, oder ob ihnen klar ist, dass sie lediglich ein Meme reproduzieren, ein Klischee erfüllen. Worüber ich mir sicher bin, ist, dass sie sehr überzeugt sind, zu den Schlauen, den »Guten« zu gehören: denen, die es eben doch ernst meinen mit Eigenverantwortung, denen, die, auch so ein Schlagwort mittlerweile, Empathie haben, denen ihre Mitmenschen nicht egal sind.
»Unverantwortlich« sind die anderen, ist zum Beispiel die Person auf dem Foto: jemand mit einem sichtbaren Hautausschlag, der in Spanien U-Bahn gefahren ist. Mehr verlässliche Informationen über die Person haben wir nicht, aber hey, irgendein Rando auf Twitter hat behauptet, dass er ein Gespräch mit der Person geführt hätte, in dem sie bestätigt hätte, dass es sich um Affenpocken handelt, und dann hat Chris Turnbull, jemand der seit 2,5 Jahren hauptberuflich völlig überzogene Panik wichtige Informationen über Covid-19 verbreitet, es retweetet, und das reicht uns.
https://twitter.com/EnemyInAState/status/1553536762319966208
Klar, normalerweise kommentieren wir die banalsten Anekdoten auf Twitter mit »G’schichten aus’m Paulanergarten« und »…und dann haben alle geklatscht«, aber wir wissen doch wie die Leute sind, das hier macht einfach Sinn für uns, wir würden Falschinformationen erkennen, wenn wir sie sehen, Falschinformationen sind, was die anderen verbreiten. Und im Zweifelsfall, wenn es sich doch als Fake herausstellen sollte, können wir noch immer die Get-out-of-jail-free-card jedes Twitter-Libs spielen, indem wir schreiben: Allein, dass es so viele geglaubt haben, sagt doch was aus über die Menschheit!
Brechen wir mal herunter, was wahr sein müsste, damit die Geschichte, die der spanische Arzt Arturo M Henriques auf Twitter erzählt hat, so stimmen könnte:
- Jemand muss an Affenpocken infiziert sein. Das ist jetzt nicht absurd, die Fälle steigen, aber auf die Gesamtbevölkerung gemessen sind es noch nicht viele — in Spanien, wo diese Geschichte passiert sein soll, ungefähr 5000, bei einer Bevölkerung von 47 Millionen. Es muss außerdem ein Fall sein, bei dem die Infektion a) sichtbar, aber b) nicht übermäßig schmerzhaft ist, die Person kann ja offenbar noch relativ unbeschwert U-Bahn fahren. Schon etwas unwahrscheinlicher, aber natürlich möglich.
- Die erkrankte Person muss zufällig gleichzeitig U-Bahn fahren mit und in der Nähe stehen von einem Arzt, der überdurchschnittlich viel über Affenpocken weiß (er identifiziert die Krankheit etwa als »auf dem Höhepunkt der Ansteckung« [Google-Übersetzung]).
- Dieser Arzt muss die Affenpocken aus der Distanz korrekt visuell diagnostizieren. Spätestens hier wird es einigermaßen unwahrscheinlich, denn der Ausschlag, der durch Affenpocken verursacht wird, ist visuell eigentlich nicht so klar von dem durch manch andere Hautkrankheiten verursachten zu unterscheiden.
- Die erkrankte Person muss, wie der Twitter-User weiter erklärt, bereits einen Arzt aufgesucht haben, der korrekt Affenpocken diagnostiziert hat — und der Person erklärt hat, dass nur schwule Männer Affenpocken bekommen können, und der Person versichert hat, dass keine Quarantäne nötig ist. Außerdem habe der Arzt empfohlen, wegen der Affenpocken eine Maske zu tragen — obwohl er ja offenbar nicht daran glaubt, dass die Krankheit auf anderem Wege als beim Sex zwischen Männern übertragen werden kann. Es muss also ein Arzt gewesen sein, der irgendwie gleichzeitig einigermaßen kompetent in der Diagnose der Krankheit ist, und absurde, völlig widersprüchliche Ideen darüber hat, wie sie übertragen wird.
Ich frage: Ist das wirklich wahrscheinlicher, als dass sich jemand halt einfach für Twitter-Clout etwas ausgedacht hat? Oder vielleicht, dass jemand irgendwie das Herz am rechten Fleck hat und das Bewusstsein für die Gefahr durch Affenpocken schärfen will, und sich dafür eine Geschichte ausgedacht hat? Seid ihr wirklich so überzeugt, dass es nicht eine dieser Varianten war, dass ihr euch in eurer Empörung und dem kollektiven Shaming dieser unbekannten Person, an dem ihr euch beteiligt, gerechtfertigt fühlt?
Okay, von mir aus: Nehmen wir mal an, diese Geschichte, die so nie passiert ist, wäre so passiert. Würde das die Reaktion rechtfertigen? Würde es rechtfertigen, ein ohne Zustimmen der Person in der U-Bahn aufgenommenes Foto auf Twitter zu teilen? Würde es rechtfertigen, die Person pauschal zu verurteilen? Oder ist es nicht eher gefährlich, diese Geschichte, mit diesem Foto, zu verbreiten? Könnte das nicht, völlig unabhängig davon, ob diese spezifische Geschichte so stimmt, dazu beitragen, dass ein Stigma entsteht gegen Menschen, die mit sichtbaren Hautkrankheiten in die Öffentlichkeit gehen? Ich zum Beispiel habe Psoriasis, eine völlig ungefährliche, nicht ansteckende Erbkrankheit. Die Gefahr für Menschen, die mit mir in Kontakt kommen, ist gleich 0. Aber während schweren Schüben sieht mein Hautausschlag deutlich schlimmer aus als das da auf dem Foto. Muss ich in Zukunft Angst haben, dass die selbsternannte Affenpocken-Polizei heimlich Fotos von mir schießt, um einen Twitter-Shitstorm gegen mich loszutreten? Hatten wir nicht, damals, am Anfang der Covid-Pandemie, als asiatisch gelesene Menschen in der Öffentlichkeit als angebliche Virenschleudern diffamiert wurden, unsere Erfahrungen damit gemacht, wie schnell es gehen kann, dass Gruppen von Menschen ungerechtfertigt stigmatisiert werden?
Wer ist hier wirklich unverantwortlich: Die Person, die mit einem Hautausschlag, der vielleicht, aber wahrscheinlich nicht von Affenpocken kommt, in der U-Bahn steht? Oder doch diejenigen, die diese Person heimlich fotografieren und dann hundertfach das Foto teilen, jede Skepsis über Bord werfen, die Person verurteilen und die Verdummung der Menschheit beschwören? Die damit implizieren: So sehen Affenpocken aus und so sollte man Menschen behandeln, die die Krankheit haben.
Das absurde ist: Diejenigen, die sich am durch Turnbull losgetretenen Dogpile beteiligen, glauben ja, sie würden hier gegen Stigmatisierung kämpfen. Das ist nämlich der andere Kommentar, mit dem Turnbulls Thread am häufigsten geteilt wird: Varianten von »Hier sieht man, wo die Stigmatisierung homosexueller Männer hinführt!« Denn irgendwie hat sich unter Teilen des »Team Vorsicht« die Idee verbreitet, dass es an sich stigmatisierend wäre, anzuerkennen, dass die bisherigen Affenpocken-Fälle sich überwältigend auf Männer, die Sex mit Männern haben (»MSM«) konzentrieren. Ich sage »irgendwie«, aber eigentlich weiß ich genau, wie es kommt, dass diese Idee Fuß fassen konnte: In über zwei Jahren Covid haben wir uns davon überzeugen lassen, dass Krankheiten eine moralische Qualität haben, dass es ein moralischer Makel ist, krank zu werden und, vor allem, andere mit einer Krankheit anzustecken. Wir sollten bereits aus der AIDS-Krise gelernt haben, wie gefährlich dieses Denken ist: Das Kernproblem der (Nicht-)Reaktion vieler Regierungen war damals nicht die Beobachtung, dass schwule Männer besonders betroffen waren;1 sondern die Schlussfolgerung daraus, dass man deshalb nichts gegen die Krankheit tun müsste, weil diese Menschen es nicht anders verdient hätten.
Und wenn man dieses moralisierende Denken nicht weiter hinterfragt, und dann versucht, es mit seinen anderen Überzeugungen als einer von den Guten zusammenzubringen, entstehen halt solche logischen Ketten:
- Es ist ein moralischer Fehlschlag, krank zu werden.
- Aber es ist nicht unmoralisch, als Mann Sex mit anderen Männern zu haben.
- Wenn beide diese Annahmen wahr sind, und ich dann sage, dass derzeit besonders »MSM« krank werden, sage ich, dass besonders MSM moralisches Fehlverhalten zeigen, und stigmatisiere damit eine Gruppe von Menschen.
- Aber ich stigmatisiere keine Gruppen von Menschen, denn ich bin einer von den Schlauen, Guten.
Es gibt ja durchaus eine Gefahr der Stigmatisierung von Männern, die Sex mit Männer haben. Rechte versuchen ja bereits, die Verbreitung von Affenpocken besonders unter dieser Gruppe von Menschen für ihre Narrative zu missbrauchen. Aber die Antwort darauf kann doch nicht sein, die überwältigende Evidenz zu ignorieren, die darauf hindeutet, dass derzeit besonders diese Gruppe von Menschen betroffen ist — und im Zuge dessen notfalls sogar eine andere Gruppe von Menschen zu stigmatisieren, die uns irgendwie egaler ist, hier die mit sichtbaren Hautkrankheiten.
Stattdessen muss die Antwort sein, dem Aufladen von Infektionskrankheiten mit moralischem Gewicht entgegenzuwirken. Anzuerkennen, wer derzeit besonders gefährdet ist, und gleichzeitig deutlich zu machen, dass das nicht Konsequenz von moralischem Fehlverhalten ist. Dass krank zu werden und, ja, auch andere Anzustecken, nicht zwangsweise Ergebnis persönlicher Rücksichtslosigkeit ist. Und zu reagieren nicht, indem man Verhalten anprangert, sondern indem man sich dafür einsetzt, dass Ressourcen dort angewandt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Dazu gehört auch, deutlich zu machen, wo die Ressourcen derzeit nicht gebraucht werden: Derzeit gibt es etwa nur sehr begrenzt Impfstoff gegen Affenpocken, und es wäre eine Verschwendung, würden wir Teile davon Menschen geben, die nicht zu der Gruppe gehören, die das größte Risiko hat, zu erkranken, aber die sich große Sorgen machen, weil sie in der U-Bahn neben jemandem mit Hautausschlag saßen.
Das ist eine durchaus komplexe kommunikative Herausforderung! Man muss dafür erstmal davon ausgehen, dass unsere Mitmenschen nuancierte Informationen genauso gut verstehen wie wir selbst. Dass die meisten von ihnen auch schlau und gut sind und mit klar kommunizierten, auch komplexen und sensiblen Informationen umzugehen wissen. Aber genau das ist natürlich schwierig für die Art Mensch, die auf einen Post wie den von Turnbull anspringt: eben die Sorte Mensch, die auch glaubt, dass das größte Problem in den letzten zwei Jahren die mangelnde Eigenverantwortung gewesen wäre, obwohl die meisten Menschen nachweislich durchgehend verantwortlich gehandelt haben. Die Sorte Mensch, die sich so sicher ist, zu den Schlauen und Guten zu gehören, dass sie ihre eigenen, gefährlichen Denkmuster nicht mehr hinterfragen.
Update: Die Person auf dem Foto hat sich mittlerweile selbst zu Wort gemeldet und — das wird euch jetzt schockieren — erklärt, dass sie keine Affenpocken habe, sondern die nicht ansteckende Krankheit Neurofibromatose. Und dass sie nie mit Henriques gesprochen habe.
Was für ein Plot-Twist: Die Menschen, die ungefragt eine fremde Person in der U-Bahn fotografiert, das Foto auf Twitter gesharet und die Person dann basierend auf unverlässlichen, widersprüchlichen Informationen verurteilt haben, standen auf der falschen Seite. Wer hätte das ahnen können — außer ich und absolut jede*r, der*die Geschichten, die Panik über ansteckende Krankheiten verbreiten, mit derselben gesunden Skepsis begegnet wie Geschichten, die sie verharmlosen.
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Auch wenn natürlich die Annahme falsch war, dass nur schwule Männer erkranken könnten.↩︎
July 31, 2022 affenpocken covid twitter shaming dogpiling libs pandemie krankheit gesundheit deutsch text
Wie Spotify unabhängiges Podcasting bedroht (& warum ihr nicht Anchor nutzen solltet, wenn ihr im Jahr 2022 Audio-Inhalte ins Netz stellen wollt)
Was ist ein »Podcast«?
Bevor Podcasts in der Mitte der Gesellschaft ankamen, wurde ich das gelegentlich von älteren Verwandten gefragt, und genau wie auf die Frage »Was ist ein Blog?« fand ich es schwierig, eine befriedigende Antwort zu geben — oder zumindest: eine befriedigende für beide Seiten. Meistens sagte ich am Ende sowas wie, »Das ist wie Radio im Internet, nur, dass du’s hören kannst, wann du willst«, und den Fragenden reichte das; ich allerdings war unzufrieden mit meiner Antwort, denn eine der für mich wichtigsten Eigenschaften von Podcasts hatte ich nicht erwähnt, weil ich nicht glaubte — oder, seien wir ehrlich, keine Lust hatte, es zu versuchen —, dass ich den Fragenden verständlich machen könnte, was genau das ist und warum es wichtig ist: die Technologie hinter Podcasts. Gemeint sind nicht Smartphones oder Computer oder, obwohl Podcasts bekanntlich danach benannt sind, iPods; gemeint ist die Technologie, mit der Podcasts vertrieben werden, die überhaupt erst aus einer Reihe von Audiofiles einen Podcast macht: RSS.
RSS, für diejenigen, denen es kein Begriff ist, steht entweder für »Really Simple Syndication« oder für »RDF Site Summary« oder für was anderes oder für gar nichts, so genau weiß das kaum jemand mehr. Es ist ein Dokument in der Markup-Sprache XML, das Daten, zum Beispiel Blog-Posts oder News-Artikel oder eben Podcasts, in eine strukturierte, maschinenlesbare Form bringt; ein RSS-Dokument enthält für gewöhnlich Überschrift und Inhalt eines Posts oder Artikels (oder eine Kurzform) — bei Podcasts die Episodenbeschreibung —, sowie Metadaten wie den Namen des*der Autor*in, das Veröffentlichungsdatum und, für Podcasts, einen Verweis auf die zugehörige Audiodatei. Über einen solchen RSS1-»Feed« können User*innen nun, mittels Programmen wie RSS-Readern oder »Podcatchern«, regelmäßig aktualisierte Inhalte abonnieren; Reader, Podcatcher oder ähnliches interpretieren Inhalt und Metadaten, können Veröffentlichungen so einem Podcast, einer Website oder ähnlichem zuordnen, sie chronologisch ordnen und auch die Feeds mehrerer Quellen in einer gemeinsamen Timeline aggregieren.
RSS ist eine der essenziellen Technologien des Open Web. Es ist ein nahezu universelles, sowohl für Menschen als auch für Maschinen einfach zu lesendes offenes Format; es gibt User*innen eine Menge Kontrolle darüber, wie sie Inhalte konsumieren wollen: Sie können sich ihren Reader oder Podcatcher und damit auch die Präsentation sowie die Ordnung/Gruppierung der Inhalte aussuchen. Und anders als beispielsweise bei einem Email-Newsletter müssen User*innen für ein RSS-Abo den Anbieter*innen keine Daten preisgeben. Gleichzeitig verweisen die Metadaten von RSS-Feeds stets auf die Urheber*innen, die auch die Kontrolle über ihre Inhalte behalten: Editieren oder löschen sie etwas, wird die Änderung — wenn auch oft mit einer gewissen Verzögerung — im Feed reflektiert.
Unter anderem Social-Media- und Streaming-Plattformen — allen, die im Netz Silos bauen wollen — ist RSS daher ein Dorn im Auge: Es steht im Gegensatz zu algorithmusbasierter Präsentation von Inhalten, und es arbeitet aktiv gegen Versuche, User*innen an die eigene Plattform und ihre User-Experience zu binden. Facebook und Twitter boten in ihrer Anfangszeit RSS-Feeds an, haben diese Funktionen mittlerweile allerdings entfernt (oder sehr gut versteckt). Die hier schon mehrfach erwähnte Alternative micro.blog ist deshalb so spannend, weil sie um RSS designt ist, sodass eine neue, offene Art von Social Media entsteht, eine, die über die eigenen Grenzen hinaus, mit deutlich weniger Einschränkungen als etablierte Social-Media-Plattformen, kommunizieren kann.
Und RSS ist eben auch ein fundamentaler Teil der DNA von Podcasts. Der Erfolg von Podcasts als Medium liegt in seiner Intimität, darin, dass Podcasts dorthin kommen, wo der*die Hörer*in ist. Dazu gehört, dass man Podcasts hören kann, wann man will, und wo auch immer man sich in der physischen Welt aufhält: Audio-Content, anders als Video oder Text, kann »nebenbei« konsumiert werden — während der Arbeit, beim Autofahren etc. —, und anders als klassisches Radio sind Podcasts auch nicht an einen festen Zeitplan gebunden. Es gehört aber auch dazu, dass Podcasts in der digitalen Welt zum*zur Hörer*in kommen: dass wir entscheiden können, welches Gerät und welche App wir nutzen, um sie zu hören und/oder zu abonnieren — ob wir sie im Podcatcher, Audio-Player, oder, wenn wir auf Schmerzen stehen, direkt im Browser abspielen —, ob wir sie streamen oder herunterladen, ob wir sie mit erhöhter Geschwindigkeit oder, keine Ahnung, einem lustigen Voice-Filter abspielen. All das ist möglich, weil Podcasts über RSS vertrieben werden.
RSS ist auch, schlicht und einfach, was Podcasts ursprünglich möglich gemacht hat. Mittlerweile gibt es natürlich dutzende Plattformen, die das Hosting und Vertreiben von Podcasts als Service anbieten: User*innen erhalten ein gewisses Kontingent an monatlichem Speicherplatz, um neue Episoden hochzuladen, und die Plattform generiert automatisch einen RSS-Feed. Vor dem Aufkommen dieser Plattformen allerdings war es die Tatsache, dass ein RSS-Dokument nicht nur relativ einfach zu lesen und zu verstehen, sondern auch einfach zu schreiben ist, die Podcasts — mit ihrer episodischen Veröffentlichung und der Möglichkeit für Hörer*innen, sie zu abonnieren — möglich machte.
Anchors »Rundum-Sorglos-Paket« für Podcaster — und der Haken
Mit alldem im Hinterkopf, reden wir über Anchor.fm. Anchor ist eine ursprünglich auf kurze Clips — eine Art Tiktok für Audio — ausgerichtete, mittlerweile aber auf das Hosten von Podcasts neuorientierte Plattform. Gegründet 2015, wurde die Plattform 2019 von Spotify gekauft. Laut eigener Aussage werden die meisten Podcasts weltweit bei Anchor gehostet — 80% aller neu gestarteten Podcasts, heißt es auf der Website, werden bei Anchor kreiert. Ich weiß nicht, ob diese Zahl so ganz stimmt, aber Zweifel daran, dass Anchor einer der beliebtesten Podcast-Hosts ist, habe ich nicht: Die Plattform ist simpel, anfängerfreundlich und vor allem kostenlos und frei von Limits. Podcaster*innen können beliebig viele Episoden von beliebiger Größe in beliebiger Frequenz hochladen und veröffentlichen, ohne einen Cent zu bezahlen. Keine andere mir bekannte Plattform kann mit diesen Konditionen mithalten.2
Gut, ihr wisst, wohin Texte wie dieser für gewöhnlich führen, also fragt ihr euch bereits: Wo ist der Haken? Und die Antwort ist…eigentlich nirgendwo. Noch. Wenn man weiß, was man tut. Was, bedenkt man, dass Anchor sich spezifisch an Menschen vermarktet, die Podcaster*innen werden wollen, ohne so genau wissen zu müssen, was sie tun, halt nicht zwangsweise gegeben ist.
Dass eine kommerzielle Plattform wie Spotify, wenn sie einen kostenlosen Dienst wie Anchor bereitstellt, noch andere Ziele verfolgt außer User*innen einen geilen Service zu liefern, sollte klar sein; man sollte sich halt bewusst machen, welche Ziele genau das sind, und sich fragen, ob man daran mitwirken möchte. Auf diese Frage kommen wir im Folgenden zu sprechen, aber lasst uns das ganze ein Bisschen von hinten aufziehen: Wie Anchor die Ziele seiner Mutterplattform umzusetzen versucht, ist ziemlich clever — und ziemlich perfide.
Anchor verkauft sich als Rundum-Sorglos-Plattform für Menschen, die einen Podcast starten wollen, ohne sich groß mit der Technik und Verwaltung beschäftigen zu müssen. Und dann spekulieren sie darauf, dass genau diese Menschen nicht merken, welchen, nun, Bullshit Anchor ihnen unter dem Vorwand der Nutzerfreundlichkeit unterjubelt. Technisch gesehen lässt sich all der Bullshit abstellen oder umgehen, sogar (noch) sehr einfach, sodass sich Anchor immer elegant rausreden kann; aber das Abstellen oder Umgehen verlangt genau die Kenntnis von Technik (und in Zukunft vielleicht auch den Verwaltungsaufwand), die man ja gerade überspringen will, wenn man eine Plattform wie Anchor nutzt.
So bot Anchor bisher beispielsweise eine »One-Click-Distribution« zu Apple Podcasts an. Was sie nicht explizit machten war allerdings, dass der Podcast dann unter der Anchor-eigenen Apple ID hochgeladen und eine zufällig generierte Email mit Anchor-Domain als Kontaktadresse angegeben wurde (die nichtmal auf die im Anchor-Account angegebene Email weiterleitete). So hatten User*innen, die die »One-Click-Distribution« nutzten, keinen Zugriff auf die deutlich detaillierteren Statistiken von Apple und konnten von Apple oder Hörer*innen nicht per Email kontaktiert werden. Man konnte, verborgen in den »Advanced Options« des Anchor-Accounts, einstellen, dass die eigene Email im RSS-Feed gelistet wurde, und dann bei Apple anfragen, den Podcast zu einer eigenen Apple ID zu transferieren; aber a) musste man dafür erstmal wissen, dass es nicht normal ist, dass Podcast-Hosts Podcasts so bei iTunes/Apple einreichen, & b) hatte man so im Endeffekt mehr Aufwand als hätte man den Podcast selbst bei Apple eingetragen.
Im letzten Jahr hat Anchor Änderungen vorgenommen, die auf die Kritik an diesem System eingingen — die Gelegenheit aber auch für neuen Bullshit genutzt. Unter dem Titel »Evolving Anchor distribution to meet the needs of new creators« schrieb »Co-Founder, Anchor and Ex-Head of Podcasts, Spotify« Michael Mignano damals:
We’ve heard from creators that it’s increasingly important for them to submit their shows to listening platforms (including Apple Podcasts) themselves, rather than Anchor doing so on their behalf. We’ve recognized that by doing so, it will make it easier for creators to access many of the new features and services podcast platforms are offering. So, starting later this summer, we’ll help guide new creators on how to submit their podcast for review to Apple Podcasts and other platforms themselves through a series of detailed and easy-to-follow steps, rather than Anchor doing it for them.
OK, so weit, so gut, schätze ich. Aber es wird noch…interessanter. Unter der Zwischenüberschrift »Greater control over which platforms ingest, publish, and monetize creators’ content« schreibt Mignano:
As more and more new audio platforms emerge and look to capitalize on the growing audio space, it’s important that creators have control over which platforms are aggregating their content from the web (and in some cases, building their own businesses on top of creators’ content without their consent). Currently, when a creator launches a new podcast on most podcast creation platforms (including Anchor), the platform automatically generates an RSS feed and publishes it to the open web. This published RSS feed makes it possible for any platform or website to ingest the RSS feed, and display and even monetize the content. This can happen without explicit permission from the creator. As part of our distribution update, we will only generate an RSS feed if the creator explicitly wants one (and we’ll present clear options on how to do so at the time of publish). This will ensure that each creator can explicitly choose to publish their podcast with an RSS feed (therefore enabling any platform to ingest, display, and monetize that content) rather than it happening automatically without the creator’s consent.
Das steht im Widerspruch zu dem, was Mignano weiter oben angekündigt hat. Ohne einen RSS-Feed kann man seinen Podcast nicht bei Apple einreichen, oder bei Google, oder sonstwo.3 Ich finde es einigermaßen…verwirrend, User*innen einerseits zu sagen: Hey, wir zeigen euch, wie ihr ganz simpel selbst euren Podcast bei Verzeichnissen einreichen könnt, damit ihr die volle Kontrolle und Zugriff auf alle Statistiken habt; und gleichzeitig zu warnen: Die Technologie, die dafür erforderlich ist, führt dazu, dass ihr die Kontrolle über euren Podcast verlieren könntet, also schalten wir sie lieber erstmal ab.
Es ist wieder die bekannte Strategie: Technisch gesehen kann man sich bei Anchor ohne Probleme einen RSS-Feed generieren lassen, wie bei jedem anderen Podcast-Host auch; aber ich weiß nicht, ob die Sorte Einsteiger*in, an die Anchor sich vermarktet, da weiß, was die bessere Entscheidung ist. Oder ob der*die ein oder andere von ihnen nicht spätestens, sobald er*sie ein Pro/Contra zu irgendeiner obskuren Web-Technologie liest, abschaltet, entscheidet, sich nicht damit befassen zu wollen, und deswegen halt die Standard-Einstellungen akzeptiert.
Die bessere Entscheidung, nebenbei, ist natürlich, einen RSS-Feed anzubieten. Nicht nur aufgrund der oben genannten Vorteile von RSS, sondern auch, weil die von Anchor genannten Risiken tendenziell Quatsch sind. Ich weiß nicht, wie genau RSS irgendeine shady Plattform dazu befähigen soll, einen fremden Podcast zu monetarisieren4 — ich schätze, indem man den Inhalt einbindet und Werbung drum herum schaltet? Aber das kann ich auch mit einem Spotify-Player. Keine Ahnung, vielleicht macht ein RSS-Feed es minimal leichter, sowas zu automatisieren, aber ich mein, RSS zeigt noch immer auf den*die Urheber*in, also hilft das am Ende doch irgendwie euren Stats, und ein RSS-Feed gibt halt euch und euren Hörer*innen neue Freiheiten. Und das mit der Email hatten wir ja schon. Ich kann mir schlicht kein Szenario vorstellen, in dem die Vorteile eines RSS-Feeds die möglichen Nachteile nicht deutlich überwiegen.
Zugegeben: In der Praxis, das habe ich mit einem Wegwerf-Account ausprobiert, sind die mittlerweile umgesetzten Änderungen erstmal halb so wild: Wer bei Anchor einen Podcast anlegt, landet nach ein paar Schritten auf einer Seite, auf der die (nicht optionale) Veröffentlichung bei Spotify bestätigt wird. Weiter unten auf derselben Seite findet man einen Button, über den man einen RSS-Feed generieren kann, was, wie die Seite richtig informiert, nötig ist, um den Podcast bei anderen Plattformen einzureichen (was man nun selbst übernehmen muss). Ein kleines Fragezeichen-Icon führt zu den Support-Seiten von Anchor, auf denen das Konzept »RSS« erklärt und außerdem gewarnt wird, dass durch das Generieren des Feeds technisch gesehen die eigene Email-Adresse öffentlich wird.5
Ein überflüssiger Schritt also — das Generieren eines RSS-Feeds sollte keine optionale Funktion sein —, aber immerhin ist dieser bislang nicht irgendwo in einem Menü versteckt. Wahrscheinlich wird das nicht viele Menschen davon abhalten, einen Feed für ihren Anchor-Podcast zu generieren. Andererseits: Wenn es eine Person davon abhält, ist mir das schon zu viel. Und man sollte das auch nicht unterschätzen: Wann immer ich erwähne, dass ich einen Podcast habe, ist schon jetzt in 9 von 10 Fällen die erste Frage meines Gegenüber: »Ist der auf Spotify?« Für viele ist Spotify, tragischerweise, nicht nur die App ihrer Wahl, um Podcasts zu hören, sie haben sich noch nichtmal groß damit beschäftigt, dass es andere (bessere) Optionen gibt; ich kann mir durchaus vorstellen, dass der*die ein oder andere denkt: »Reicht doch, wenn mein Podcast auf Spotify ist, ich kenn eh niemanden, der was anderes benutzt.«
Vor allem aber traue ich Anchor nicht, dass es dabei bleibt. Nicht nur, weil ich weiß, wie Tech-Firmen nunmal operieren, sondern auch, weil Mignano seine RSS-Skepsis kürzlich in einem weiteren Medium-Post bekräftigt hat. »The Standards Innovation Paradox« heißt der, und es ist ein durchaus faszinierender Einblick in den Kopf eines Menschen mit fortgeschrittenem Fall von Founder-Brain.
Es gibt kein »Standards Innovation Paradox«
Mignano betont in seinem Text ungefähr 68 mal, wie grundsätzlich super technologische Standards wie eben RSS seien, so, wie man beim Schlussmachen halt auch immer mit »Du bist super, ehrlich!« anfängt. Gleichzeitig zeichnet er Standards aber als Gegner der Innovation: Sie entwickelten sich nur sehr träge weiter, was zum Beispiel der Grund dafür sei, dass das Podcast-Format seit seiner Einführung vor 20 Jahren weitestgehend stagniere:
Despite the benefit of standards-based products being able to reach an audience faster, the tradeoff is that a lower barrier to entry means more products get created in a category, causing market fragmentation and ultimately, a slow pace of innovation. I call this tradeoff the Standards Innovation Paradox[.]
Lassen wir für den Moment mal beiseite, ob das so stimmt — ob Standards wirklich Innovation erschweren oder verlangsamen: Ist es nicht allein schon interessant, dass Mignano »market fragmentation« als Hindernis für Innovation sieht? Lautet die Standard-These neoliberaler Propaganda nicht für gewöhnlich, dass gerade Wettbewerb, gerade die Möglichkeit der Endverbraucher*innen, zwischen vielen Optionen zu wählen, Innovation fördere? Geht es hier wirklich um die Unmöglichkeit von Innovation, oder vielleicht doch eher darum, dass diese »market fragmentation« es Giganten wie Spotify erschwert, eigene Standards zu diktieren oder gleich der »Standard«, i.e. der einzig relevante Anbieter, zu sein?
Interessant auch, was Mignano so an »Innovationen« einfällt, die an der Hürde des RSS-Standards scheitern:
For example, let’s say we wanted to enable a comments section for podcast episodes and have these comments be available within a show’s RSS feed. Unless we were able to get hundreds of podcast listening apps out there to adopt the change, the comments wouldn’t be supported on the listening side of podcasting. Without this support, there would be no incentive for creators to adopt and engage with comments either, and the feature would immediately fail.
As another example, let’s say we wanted to build a richer, more dynamic system for podcast analytics that enabled creators to better understand the performance of their shows, thus increasing their earnings potential through modern forms of internet advertising. Unless we were able to get hundreds of podcast listening apps out there to adopt the proposed change, getting the richer data from the listening apps back to the publishing platform wouldn’t be possible, and the innovation would fail.
Das ist halt die Sorte Gedanke, die man hat, wenn man ausschließlich aus Sicht eines profitorientierten Großunternehmens anstatt aus der der User*innen denkt. Es ist bezeichnend schwammig, was genau Mignano mit »richer, more dynamic« meint, aber ich sehe erstmal zwei Ansatzpunkte, Podcast-Analytics zu verfeinern: Entweder bei der Auswertung von Daten — was völlig unabhängig vom RSS-Standard von jedem Podcast-Hoster individuell gelöst werden kann.
Oder aber beim Sammeln von Daten. Da spielen die Möglichkeiten des RSS-Standards tatsächlich eine Rolle. Nur ist es kein Bug, sondern ein Feature von RSS, dass kaum Nutzungsdaten gesammelt werden. Anzahl, Ort, Zeitpunkt und »User-Agent« (die benutzte App) sind im Grunde alle Daten, die man als Podcaster*in zur Verfügung hat — und das ist gut so: Klar könnte es, aus Sicht von Hosting-Plattformen und Podcaster*innen, irgendwie nützlich sein, hätte man etwa, ähnlich wie bei YouTube, Informationen darüber, ob die Hörenden Folgen vollständig hören oder vorher abbrechen, oder welche anderen Vorlieben für Podcasts (etc.) sie haben, oder demographische Daten wie Alter, Geschlecht usw. Aber als Hörer von Podcasts bin ich einigermaßen froh, dass dieser eine Bereich meines Medienkonsums noch (relativ) unberührt ist von der Sorte Verletzung der Privatsphäre, die ~modern forms of internet advertising~ möglich machen.
Ähnliches gilt für Hörer*innen-Kommentare: Ich bin Mitglied diverser Podcast-Discord-Server und will daher gar nicht leugnen, dass Community-Funktionen einen Platz haben. Aber besser aufgehoben sind die eben in Discords oder Subreddits — wollte man Kommentare in Podcatchern darstellen, müssten diese Apps teils von Grund auf anders designt werden, auf jeden Fall würden sie langsamer und unübersichtlicher; und am Ende könnte die User-Experience doch nicht mit der von Apps mithalten, die tatsächlich von vornherein für solche Funktionen gedacht sind. Ganz unabhängig davon, dass nicht jede*r Hörer*in mit der Community interagieren will.
Das ist halt das Ding an dem, was im Spätkapitalismus so »Innovation« genannt wird: Was für das Kapital ein Fortschritt ist, kann für den Endverbraucher ein Rückschritt sein. Wir haben schon genug Apps auf unseren Handys, die, damit sie uns besser ausspionieren und mehr Engagement generieren können, überfrachtet mit sinnlosen Funktionen und entsprechend krampfig zu benutzen sind. Der RSS-Standard mag gelegentlich auch echte Innovation verlangsamen oder erschweren;6 gleichzeitig schützt er aber auch vor dieser Art »Innovation« im Sinne von Tech-Konzernen statt User*innen. Kann man so oder so sehen, aber für mich ist es dieser Tradeoff wert.
Spotify, meint Mignano, habe den »Fluch« des Standard Innovation Paradox gebrochen:
A few years ago, the streaming audio giant evolved from being only a music service to being one for other categories of audio, such as podcasts. Given the content and experience differences between music and podcasts, many hoped the company would launch a dedicated podcast listening app to offer users a clean separation between the two content types. However, if they had done so, they’d have to contend with the aforementioned ocean of podcast listening apps which were all offering users roughly the same features that were limited by the standard. It would be just as challenging to breakthrough for a Spotify podcast app as it has been for every other podcast listening app. So instead, Spotify used their existing music user base inside of the existing Spotify app to distribute podcasts to hundreds of millions of users.
Und technisch gesehen stimmt das so. Aber inwiefern das irgendeinen »Fluch« bricht, nun, das ist ebenfalls eine Frage der Perspektive. Aus User*innen-Sicht lässt sich dieser Vorgang auch so beschreiben: Spotify hat seine Dominanz in einem Sektor (Musik-Streaming) genutzt, um Kund*innen in einem anderen (Podcasts) ein minderwertiges Produkt zu verkaufen. Nämlich dieselbe alte Spotify-App, die für das Entdecken und Hören von Musik gemacht ist, weniger für das Abonnieren von Podcasts, und die so ziemlich die schlechteste App für den Konsum von Podcasts ist, die ich kenne.7 Spotify-User*innen kennen es halt nicht besser, aber dass Spotify sich, da es dank seinem Musik-Angebot bereits eine existierende Userbase hatte, nicht um Standards schert, hat eben nicht zu Innovation im Sinne der Nutzer*innen geführt, sondern dazu, dass Spotify nichtmal die Standard-Features, die jede andere Podcast-App hat übernahm: User*innen können bei Spotify etwa keine Podcasts abonnieren, die nicht Teil von Spotifys eigenem Verzeichnis sind — das geht, eben über das Eingeben einer RSS-Feed-Adresse, in so ziemlich jedem anderen relevanten Podcatcher. So lassen sich zum Beispiel die Bonus-Feeds, die viele unabhängige Podcaster*innen ihren Supporter*innen bei Patreon oder ähnlichem bereitstellen, nicht in Spotify abonnieren. Spotifys Ignorieren des RSS-Standards ist also auch nicht im Sinne unabhängiger Podcaster*innen: Wenn mich jemand fragt, ob mein Podcast bei Spotify ist, freue ich mich über den*die neue Hörer*in — weiß aber auch, dass diese Person weniger Anreize hat, meinen Podcast zu unterstützen, als Nutzer*innen anderer Apps, denn wer weicht schon nur für ein Bisschen Bonus-Content auf eine andere App als die gewohnte aus? Man kann auch bei Spotify Bonus-Inhalte anbieten — wenn man Anchor nutzt und auf deren integrierte Funktionen dafür zurückgreift. Die sind wahrscheinlich auch gar nicht schlecht, aber hier sieht man, was dabei herauskommt, wenn ein dominanter Konzern auf das Unterstützen technologischer Standards verzichtet: Der Weg für Monopolisierung wird bereitet.
Ein weiterer Bereich, neben Podcasts und, natürlich, Email-Newsletter,8 in dem laut Mignano Standards Innovation hemmen, sind übrigens Messenger, und das finde ich dann so richtig witzig: Gibt es irgendein besseres Beispiel dafür, wie das Fehlen von Standards Nutzer*innen aller Apps das Leben schwerer machen kann? Mignano schreibt:
Just think about how much iMessage has changed over the years. In the early days, it was indistinguishable from SMS. But now, it’s extremely rich with features like read receipts, photo galleries, face filters and Memojis, an App Store, voice memos, and the list goes on. And the same can be said about Snapchat, Messenger, WhatsApp, and many other proprietary messaging platforms. The only way these platforms were able to reach this level — and pace — of innovation was by building outside of the SMS standard (though, importantly, this came at the expense of being able to interact with other systems, thus limiting the potential audience).
Und ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich würde jedes dieser Features dagegen tauschen, dass iMessage, Telegram, WhatsApp & Co. miteinander kompatibel wären — wozu es einen gemeinsamen Standard bräuchte.9
Mignano versucht sich dann an einem versöhnlichen Ende:
It’s important to remember that customers like using products based on standards because doing so offers them choice and data portability. If a standards-based product happens to break through market fragmentation, it’s important to maintain the benefits users got from the standard in the first place, otherwise you risk alienating your users and losing product market fit. The best way to do this is to ensure backwards compatibility with the standard.
Hier bringt er als Beispiel erneut Apples iMessage — und bezeichnenderweise nicht Spotify. Spotify ist eben in mancher Hinsicht nicht »backwards compatible«, zum Beispiel eben nicht mit RSS-Feeds von Podcasts, deren Urheber*innen sie nicht selbst bei Spotify eingetragen haben. Spotify bietet auch keine »data portability«: Es kann weder eine OPML-Datei mit den abonnierten Podcasts exportieren, noch eine von einer anderen App generierte importieren. Das heißt: Wer als User*in von oder zu Spotify wechseln möchte, muss von null anfangen, hat keine Möglichkeit, bisherige Abos, gespielte Folgen etc. zu übernehmen.
Die Netflixisierung von Podcasts
Wäre Mignano also wirklich etwas daran gelegen, dass Produkte, die sich trotz »market fragmentation« durchsetzen, die »benefits users got from the standard in the first place« behalten, wäre hier ein guter Punkt, um Kritik an seinem Mutterkonzern zu üben. Natürlich tut er das nicht. Denn trotz aller Beteuerungen, wie großartig er Standards finde, ist Mignanos Beweggrund für das Schreiben dieses Textes offensichtlich: Es nervt ihn, dass Spotify und Anchor nicht einfach ihre gewünschten »Innovationen« diktieren können. Aber er weiß gleichzeitig, dass der RSS-Standard für Podcasts zu gefestigt ist, als dass selbst Spotify und seine Tochterfirma sich auf einen Schlag ganz von ihm verabschieden könnten — noch: Noch muss Anchor das Generieren eines RSS-Feeds für andere Plattformen als Spotify zumindest anbieten. Noch muss Spotify wenigstens das Einreichen von RSS-Feeds durch Podcaster*innen selbst akzeptieren. Aber Spotify träumt von einer anderen Welt: einer, in der sie jeden Teilabschnitt der Podcast-Pipeline — vom Erstellen10 über das Hosten bis zum Vertrieb, der Monetarisierung und natürlich dem Konsum von Podcasts — monopolisiert haben. Und in der sie nach Belieben all die Grausamkeiten, die so ziemlich allen anderen Bereiche unseres Internet- und Medienkonsums den Spaß genommen haben — moderne, »dynamische« Formen der Werbung zum Beispiel — auch hier einführen können, unilateral, ohne von Lästigkeiten wie »demokratisch vereinbarten Standards« behindert zu werden.
Kurz: Spotify will die Netflixisierung von Podcasts. Ja, sie wollen die Definition des Wortes »Podcast« ändern: weg von einem dank leicht zugänglicher und offener Technologie vor allem von leidenschaftlichen Amateur*innen und unabhängigen Kreativen geschaffenen Medium hin zu einer Art Content, die auf einer (geschlossenen, proprietären) Plattform erscheint. Sie wollen mit einem Netflix-Modell Geld abgreifen, solange im Bereich »Audio-Streaming« was zu holen ist.11 Das Aufkaufen von Anchor ist genauso Teil der Strategie wie das Anwerben von beliebten, einst unabhängigen oder zu kleinen Netzwerken gehörenden Podcasts wie den Gimlet-Shows oder, ja, Joe Rogans Podcast, die nun exklusiver Streamingcontent für Spotify sind. Und, ja, auch Anchors zunächst kleine Schritte weg vom RSS-Standard und Mignanos muddying the waters-Texte, die RSS als irgendwie shady und Hindernis für Innovation darstellen, sind Teil dieser Strategie.
Noch ist Spotify recht weit davon entfernt, diese Welt endgültig geschaffen zu haben,12 aber absurd ist ihre Zielsetzung auch nicht: Die, ugh, Podcast-Industrie ist in den letzten paar Jahren explosionsartig gewachsen, und es gibt schon jetzt eine Generation von Podcast-Hörer*innen, die Podcasts vor allem als ein Angebot von Streaming-Plattformen kennen, für die der prototypische Podcast nicht mehr »drei Freund*innen machen zusammen Witze, erzählen Geschichten und nehmen das auf« ist, sondern »ein*e Redakteur*in einer Online-Plattform löst in überproduzierter aufwändig gestalteter Soundkulisse ein Verbrechen«. Und das ist ja auch okay, aber es ist wichtig, dass wir daneben auch unabhängiges Podcasting schützen. Wir dürfen Audio-Content im Netz nicht an große Plattformen aufgeben, wie wir es vorher, als wir unsere Blogs haben brachliegen lassen, mit dem geschriebenen Wort
getan haben.
Ich wiederhole meine Frage: Was ist ein Podcast? Für den nach eigener Aussage beliebtesten Podcast-Host ist es: eine Reihe von Audio-Inhalten, die bei Spotify erscheint. Und die, ja, außerdem, noch, auf anderen Plattformen ausgespielt und über einen RSS-Feed frei im Netz verfügbar gemacht werden kann, aber nicht muss. Und vielleicht gibt es irgendwann auch nichtmal mehr die Option. Und für Spotify selbst ist es (idealerweise exklusiver) Content, der über ihre proprietäre App (und idealerweise nur so) abrufbar ist.
Was heißt das jetzt für euch? Nun, wenn ihr Podcasts hört, und zwar auch mal was anderes als True Crime oder Fest & Flauschig oder wie das gerade heißt, dann kann ich euch nur empfehlen, es wenigstens mal mit einer anderen App als Spotify zu versuchen. Viele gute — etwa Castro und mein Favorit Overcast auf iOS — sind zumindest in der Grundversion (die schon viel besser ist als Spotify) kostenlos. Ich kann mir wirklich schwer vorstellen, dass irgendjemand Spotify noch bevorzugen würde, wenn man mal was anderes probiert hat. Die exklusiven Spotify-Shows sind eh scheiße müsst ihr, wenn ihr denn müsst, natürlich weiter in dieser furchtbaren App hören, aber kommt, ihr habt drei verschiedene Video-Streaming-Services abonniert, ihr könnt euch an eine zweite App gewöhnen, in der ihr alle Podcasts außer Spotify-Exclusives hört. Und vielleicht findet ihr ja in einem unabhängigen Podcast-Verzeichnis wie Panoptikum.io oder fyyd Alternativen, die euch am Ende eh besser gefallen. Als (sehr) kleinen Anreiz: Wenn ihr nach diesem Text einen neuen Podcatcher installiert, kommentiert hier, für welchen ihr euch entschieden habt oder schickt mir ’nen Screenshot in den sozialen Medien oder so und ich geb euch kostenlos Zugang zum aktuellen Bonus-Feed von The Magic Circle (den ihr dann auch tatsächlich nutzen könnt)!
Und für (angehende) Podcaster*innen? Nutzt Anchor, wenn ihr meint, dass das der richtige Host für euch ist,13 und veröffentlicht euren Podcast auf Spotify, wenn ihr es sinnvoll findet (mach ich derzeit auch, aber ich weiß nicht, wie lange noch). Aber achtet darauf, dass ihr die »optionale« RSS-Funktion aktiviert und euren Podcast auch anderswo gelistet habt.
Denn: Bei meiner Antwort auf die Frage »Was ist ein Podcast?« halte ich es mit Dave Winer. Bei offenen Standards ist das ja nie so ganz genau zu bestimmen und das ist auch gut so, aber wenn irgendjemand den Namen »Erfinder von Podcasts« verdient hat, ist Winer ein guter Kandidat. In seiner eigenen Reaktion auf Mignanos »Standard Innovation Paradox« schreibt er:
Podcasts are RSS 2.0 feeds with enclosures that contain the podcast content. Anything that doesn’t use a feed to distribute the audio isn’t a podcast, and shouldn’t use that name.
Wenn eure Audio-Inhalte nicht über einen offenen, frei im Netz auffindbaren Feed verfügbar sind, dann nehmt ihr keinen Podcast auf, sondern exklusiven Audio-Content für eine Streaming-Plattform. Daran ist grundsätzlich nichts falsches — wenn Spotify, oder wer auch immer die betreffende Plattform ist, euch dafür bezahlt. Ansonsten lasst ihr euch, auch, wenn es sich vielleicht anfühlt, als würdet ihr einen (von mir aus sogar kostenlosen!) Service nutzen, schlicht und einfach ausbeuten. Ihr arbeitet dann, unbezahlt, nicht nur im Dienste eines Konzerns, sondern auch im Dienste einer fragwürdigen Definition von »Innovation«, die dafür verantwortlich ist, dass das Internet immer user-unfreundlicher wird, und die die Existenz offener Standards, und damit die unabhängiger, niederschwelliger Medien, explizit als Hindernis sieht, das es zu überwinden gilt.
Wenn dir dieser Text gefällt, freue ich mich über eine kleine Unterstützung via Ko-Fi:
Oder hör doch mal in meinen Podcast rein!
»RSS« ist eigentlich ein Oberbegriff für verschiedene Formate, aber Grundprinzip und Anwendung sind weitestgehend dasselbe.↩︎
Mit Ausnahme des Internet Archives, allerdings ist deren eher dafür gedacht, Podcasts zu archivieren als aktive Podcasts zu hosten. Heißt: Man muss dann auf wichtige Funktionen wie z.B. Analytics verzichten.↩︎
Apples »Podcast Connect« hat tatsächlich die Funktion »Sendung ohne RSS-Feed hinzufügen«. Das bedeutet aber, dass man seinen Podcast ausschließlich über Apples Plattform managet und er auch nur über Apple Podcasts verfügbar sein wird. Wenn man seinen Podcast bereits bei Anchor hostet, ist diese Funktion irrelevant (und benutzen sollte sie eh niemand).↩︎
Nebenbei ist dieses Concern-Trolling ziemlich ironisch, wenn es von Anchor of all fucking places kommt: Vor einer nach Kritik vorgenommen Änderung der AGB nahm Anchor sich das Recht, jeden bei ihnen hochgeladen Podcast selbst zu monetarisieren und »derivative works« zu kreieren. Noch immer geht ein großer Anteil an mit dem optionalen »Anchor Sponsorships«-Programm generierten Einnahmen an Anchor.↩︎
Ich kann durchaus verstehen, dass das nicht jede*r möchte — aber, ähh: Email-Adressen sind kostenlos. Wer nicht seine private Email-Adresse veröffentlichen will, legt halt kurz eine neue spezifisch für den Podcast an. Eine Möglichkeit, auf die Anchor auffälligerweise nicht hinweist.↩︎
Unmöglich macht er sie aber nicht. Ich mein, Podcasts selbst wurden durch eine Weiterentwicklung des bereits vorher existierenden RSS-Standards möglich gemacht. Und auch der Podcast-Standard hat sich, anders als Mignano behauptet, durchaus weiterentwickelt in den 20 Jahren seines Bestehens. Niemand redet heute etwa mehr von »Enhanced Podcasts«, aber die Funktionen, die dieses kurzzeitig buzzige Format möglich machten, sind noch immer in vielen Podcatchern unterstützt und haben durchaus ihren praktischen Nutzen. Derzeit gibt es die »Podcasting 2.0«-Initiative, die den Standard generalüberholen will und einige gute Ideen hat — und Gründe, sie kritisch zu sehen, wie etwa die Integration von Crypto-Währungen. Man sieht daran also sowohl, dass eben doch Innovation möglich ist, als auch, warum es gut ist, dass diese nicht einfach diktiert werden, sondern nach und nach breit adaptiert werden muss und somit effektiv demokratisch bestimmt wird.↩︎
Und ich besitze mehrere Geräte, auf denen Apples unbenutzbare Podcast-App vorinstalliert war!↩︎
Mit obligatorischem Verweis auf Substack und deren Modell, aber da fang ich jetzt nicht wieder mit an↩︎
Das ist nebenbei etwas, das viele Digitalaktivist*innen gerne per Gesetz erzwingen würden, und aus gutem Grund: Ein sogenannter »Interoperabilitätszwang« könnte helfen, Tech-Monopole aufzubrechen, und Messenger sind ein naheliegender erster Angriffspunkt. Was im Umkehrschluss wiederum etwas über die Beweggründe hinter einem Text wie dem von Mignano verraten könnte.↩︎
Mit Soundtrap bietet Spotify auch seinen eigenen Audio-Editor.↩︎
Wohlwissend, behaupte ich, dass dieses Modell selbst bei Netflix nur kurz funktioniert hat. Auch bei Spotify dürfte das verzweifelte Versuchen, das Modell am Leben zu halten, eine schrittweise Verschlechterung des Angebots und der User-Experience zur Folge haben.↩︎
Auch, weil Apple Podcasts und sein auch für andere Apps offenes Verzeichnis weiterhin einflussreich ist. Wenn Apple das kleinere Übel ist, sagt das schon einiges, und das ist hier definitiv der Fall: Apples Podcast-App ist unbenutzbar und sie machen mit den neuen Abos auch zaghafte Schritte Richtung einer Monopolisierung; aber sie unterstützen RSS-Feeds und respektieren den Standard, und sie lassen User*innen ihre Daten importieren und exportieren.↩︎
Es gibt meiner Meinung nach bessere Alternativen, die auch bezahlbar sind: Der hervorragende deutsche Hoster LetsCast etwa kostet in der Basis-Version (die lediglich die maximale Anzahl der Abrufe, nicht die Funktionen einschränkt) 5€ im Monat, für beliebig viele Podcasts und Folgen. Für einen einzelnen Podcast könnt ihr etwa den schwedischen Hoster Pod.Space nutzen, deren »Mini«-Plan kostet 1,90€ im Monat. Beim Internet Archive könnt ihr sogar gratis hosten — wie erwähnt allerdings ohne nützliche Funktionen wie Analytics.↩︎
July 26, 2022 podcasting spotify anchor internet web rss feed deutsch text
The Magic Circle Season 2 Teaser: Was besagt die »Small Penis Rule«?
Wir steuern langsam aber sicher auf Staffel 2 unserer Audio-Gameshow The Magic Circle zu! Hier ein weiterer Teaser aus einer neuen Auflage unseres Wikipedia-Quizzes: Was besagt die »Small Penis Rule« und warum hat Michael Crichton schon einmal von ihr profiert?
Alle Folgen hier.
June 21, 2022 video teaser podcast wiki quiz trivia michael crichton magicircle season 2 magicircle comedy deutsch audio