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February 9, 2023 text

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Now Is Not the Time to Panic: Kevin Wilsons berührender Coming-of-Age-Roman parodiert die »Satanic Panic«

Ende 2019 las ich Kevin Wilsons Nothing to See Here, und seitdem macht Lesen mir ein bisschen weniger Spaß. Vielleicht war es das richtige Buch zur richtigen Zeit, vielleicht liegt es daran, dass es eins der letzten Bücher war, die ich vor der Pandemie zu Ende gelesen habe, vielleicht ist es einfach wirklich so gut — wahrscheinlich ist es eine Kombination aus all dem. Jedenfalls: Seitdem ist, ohne Übertreibung, keine Woche vergangen, in der ich nicht an Wilsons Buch gedacht habe, und kein Buch, das ich seitdem gelesen habe, hatte einen ansatzweise vergleichbaren Effekt.1

Nothing to See Here erzählt von Lillian, die zu Beginn ein ziemlicher Fuck-Up ist, und die dann von ihrer alten Schulfreundin Madison angeheuert wird, sich um die Kinder von Madisons Mann aus früherer Ehe zu kümmern. Die beiden Kinder haben die seltsame Eigenschaft, wenn sie aufgeregt oder wütend werden, in Flammen auszubrechen.

Das ist, finde ich, eine ziemlich grandiose Idee für einen Roman. Es ist aber auch die Sorte Idee, die oft zu Enttäuschungen führt. Derlei High-Concept-Prämissen halten selten, was sie versprechen — zu einfach ist es für Autor*innen, sich darauf auszuruhen, sich auf die Quirkyness, die eine solche Prämisse mit sich bringt, zu verlassen und wenig darüber hinaus anzubieten.

Aber Wilsons Roman hält, was die Prämisse verspricht — und viel mehr: Ich hätte von diesem Roman keinen so nuancierten, berührenden Blick auf Elternschaft erwartet, und keine so schonungslose Darstellung der Traumata, die Eltern in ihren Kindern auslösen können. Alles gefiltert durch die spezifische Perspektive Lillians, eine der eigenartigeren, unvergesslicheren Erzählstimmen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin.

Will sagen: Meine Hoffnungen für Wilsons kürzlich erschienenen neuen Roman Now Is Not the Time to Panic waren groß. Kann der Roman diese Hoffnungen erfüllen? Nein — ich mein, natürlich nicht, wahrscheinlich waren meine Hoffnungen ein Bisschen zu groß. Aber das heißt nicht, dass Now Is Not the Time to Panic für sich genommen nicht trotzdem lesenswert wäre.

Es geht um Frankie, die in der Kleinstadt Coalfield, Tennessee aufwächst, dort eine ziemliche Außenseiterin ist und sich furchtbar langweilt. Bis sie, im Sommer 1996, Zeke kennenlernt, der nach der vorläufigen Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter aus Memphis zu seiner Großmutter gezogen ist. Zeke und Frankie sind angehende Künstler*innen — sie Autorin, er Zeichner —, und entscheiden, zusammen Kunst zu produzieren. Sie entwerfen ein Poster mit einer Zeichnung von Zeke und einem Slogan von Frankie: »The edge is a shantytown filled with gold seekers. We are fugitives, and the law is skinny with hunger for us.« Zeke und Frankie hängen Kopien des Posters überall in Coalfield auf, und lösen damit etwas aus, was später als »Coalfield Panic« bekannt wird, Wilsons Parodie auf die »Satanic Panic« der 80er Jahre: Medien spekulieren wild über den*die Urheber*in des Posters, angebliche Exptert*innen dichten satanische Hintergründe dazu, Menschen fertigen ihre eigenen Varianten des Posters an, Touristen pilgern nach Coalfield. Sogar einige Tote gibt es. 20 Jahre später wird Frankie, mittlerweile eine erfolgreiche Jugendbuchautorin, von einer Reporterin kontaktiert, die herausgefunden zu haben glaubt, dass Frankie die Urheberin des Posters war, und sie überzeugen will, ihre Geschichte in einem Interview zu erzählen.

Wilson hat zwei große Stärken als Autor. Die erste ist sein Gespür für spezifische, aber glaubhafte Details: vom »Meet Cute« der Protagonist*innen bei einer bizarren, brutalen Tradition im örtlichen Schwimmbad, bis zu den spezifischen popkulturellen Reaktionen, die Frankies und Zekes Poster auslöst, etwa einen SNL-Sketch, »where it turned out that Harrison Ford was putting up the posters, though he blamed it on a one-armed man«, oder ein »twenty-seven-song concept album by the Flaming Lips called Gold-Seekers in the Shantytown«.

Wilsons andere große Stärke in Now Is Not the Time to Panic — wie auch schon in Nothing to See Here — ist die Erzählstimme. Frankies Ich-Erzählung hat einen ebenso einzigartigen Sound wie Lillians im Vorgänger. Ihre Gedankengänge und die Metaphern und Sprachbilder, die Wilson ihr in den Mund legt, wirken, als hätte Wilson sie irgendwo aufgeschnappt und mitgeschrieben, es sind die Sorte eigenartiger Gedanken und schiefer Vergleiche, die Menschen im echten Leben ständig denken und von sich geben, aber die sehr, sehr schwierig glaubhaft zu schreiben sind.

Das beste Beispiel für beides, Wilsons Blick für einprägsame Details und starke Erzählstimme, sind natürlich die Worte selbst, die Frankie auf das Poster schreibt: »The edge is a shantytown filled with gold seekers. We are fugitives, and the law is skinny with hunger for us.« Es bedeutet überhaupt nichts, aber man kann sich vorstellen, wie Menschen allerlei Bedeutung hineinlesen können, und das macht die »Coalfield Panic« um einiges glaubwürdiger.2 In weiten Teilen ist der Plot von Now Is Not the Time to Panic vorhersehbar, aber zusammen machen diese Stärken Wilsons Geschichte einprägsamer als den durchschnittlichen Coming-of-Age-Roman.

Wilson hat in verschiedenen Interviews darüber gesprochen, wie sein Tourette seine Arbeit beeinflusst, wie er die intrusive thoughts, die verstörenden Bilder und Gedanken, die sich in seinem Kopf festsetzen, zur Inspiration für sein Schreiben nimmt, und wie er seine Gedankenschleifen als eine Art Schreib-»Werkzeug« nutzt:

[O]ne of the things that helped me creatively is if I know something’s coming back, if I can hold it in my head, I can let it go knowing it’ll come back. And when it comes back, I can do something slight to alter it. And then it’ll come back again. That’s how I tell stories. I tell it in my head over and over and over again, and each time it gains a little depth, a little more nuance.

In Now Is Not the Time to Panic lässt sich dieser Einfluss sehr direkt daran festmachen, dass auch Frankie solche Gedankenschleifen hat, dass sie die Phrase wie eine Art Mantra wiederholt, dass sie gedanklich immer wieder diesen Sommer mit Zeke durchlebt. Und vielleicht ist Wilsons Neurodivergenz und die damit verbundene Arbeitsweise und Perspektive auch ein Grund dafür, warum Now Is Not the Time to Panic im Gedächtnis bleibt, warum diese oberflächlich betrachtet vorhersehbare, oft erzählte Geschichte sich spezifisch und unverbraucht anfühlt. Now Is Not the Time to Panic wird keinen erneuten dreijährigen Lesehangover bei mir auslösen, und es ist zweifelsohne ein weniger vielschichtiges Buch als Nothing to See Here. Aber eines der unterhaltsameren und berührenderen Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe, ist es trotzdem.


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  1. Ich hätte mich in der Zeit natürlich durch Wilsons bisherige Bibliographie lesen können, aber außer ein paar (sehr guten!) Kurzgeschichten aus Baby, You’re Gonna Be Mine habe ich darauf vorerst verzichtet, weil zu viele interessante neue Bücher erscheinen und, keine Ahnung, ich das Gefühl mag, diese Bücher in der Hinterhand zu haben für den Moment, wenn ich sie brauche (was immer das heißt) oder so.↩︎

  2. Tatsächlich hat Wilson diesen Satz einmal von einem alten Freund gehört, der später an Covid gestorben und dem das Buch gewidmet ist. Aber man muss halt erstmal ein Ohr für solche Sätze haben, und Charaktere schreiben können, denen man sie glaubhaft in den Mund legen kann,.↩︎

January 10, 2023 buch review rezension kritik kevin wilson nothing to see here literatur deutsch text

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Idiocracy, Corona & das Versagen der Linken | DOOMSCROLL’D

Nach einer unverantwortlich langen Post-Produktion ist sie endlich fertig: Die zweite Folge von Doomscroll’d, dem politischen Comedy-Format, das ich mit Conrad Mildner & Leonhard Balk produziere.

Diesmal geht es um Mike Judges Idiocracy, das Konzept »Intelligenzquotient«, und warum die politische Linke während der Corona-Krise versagt hat.

December 15, 2022 idiocracy doomscrolld covid corona intelligenz youtube comedy politik diskurs deutsch video

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This is what it looks like when we’re joyful: Fern Brady bei Taskmaster ist die autistische Repräsentation, die wir verdienen

Nach einer Sitzung meines ersten Improv-Kurses Anfang des Jahres nahm mein Coach mich beiseite. Wir hatten im Kurs über Lampenfieber geredet, und ich hatte erwähnt, dass ich, als Autist, alltägliche Interaktionen herausfordernder finde als vor Publikum zu performen. Nach der Sitzung sagte er mir, dass die autistische Tendenz, »the quiet part out loud« zu sagen, eine wertvolle Qualität in Improv sei: ein effektiver Weg, Szenen zu einem befriedigenden Ende zu führen, und etwas, das das Publikum liebe.

Ich musste die letzten zehn Wochen öfter an diesen Rat denken, nicht nur, wenn ich selbst performt habe, sondern auch, wenn ich neue Folgen der gerade beendeten, 14. Staffel von Taskmaster geschaut habe. Taskmaster, für diejenigen, die es nicht kennen,1 ist eine britische Panel-/Gameshow, in der eine Gruppe von Comedians in absurden, von Comedian Alex Horne erdachten Aufgaben gegeneinander antritt. »Conceal this pineapple on your person«, »Make this coconut look like a business man« — das ist die Art von Aufgabe, über die wir reden. Die Aufgaben werden vorab aufgezeichnet, und dann in Studio-Shows einem Publikum und »Taskmaster« Greg Davies vorgespielt, der das letzte Wort über die Wertungen hat. Der Cast bleibt jeweils für eine Staffel — dieselben 5 Comedians treten in 10 Studioshows an, und am Ende gewinnt der*die mit den meisten Punkten.

Staffel 14 war eine besondere für mich, weil mit der Schottin Fern Brady die erste offen autistische Kandidatin teilnahm. Vor der Staffel hatte ich nie von Brady gehört, aber als ich die Kandidat*innen der Staffel googelte und den Titel ihres aktuellen Programm las — »Autistic Bikini Queen« —, war das sofort Grund zur Vorfreude: Taskmaster-Aufgaben sind so designt, dass sie — wenn nicht in Punkten, dann in entertainment value — ungewöhnliche, out-of-the-box Denkansätze belohnen, und was ist Autismus wenn nicht eine ungewöhnliche, out-of-the-box Art zu denken?

Brady landete, gemeinsam mit dem ebenfalls extrem unterhaltsamen John Kearns, auf dem letzten Platz der Staffel. Aber sie war ein Publikumsliebling, und während es für den*die Durchschnittszuschauer*in vielleicht nicht erkennbar war — das Wort »autistisch« wurde nie gesagt —, war es für diejenigen, die wussten, worauf sie achten mussten, offensichtlich, dass Bradys autistische Perspektive beeinflusste, wie sie die Aufgaben anging, und wie sie ihre Performances im Studio gegenüber Davies verteidigte. Wie Brady kürzlich selbst in einem Instagram-Post schrieb:

It’s in the ridiculous way I solved my final task, in my openly stimming on camera while I concentrated on my next task, in my screaming at the birds to shut up because I hear all noises at the same volume, in my tendency to anthropomorphise every inanimate object on set.

Brady schreibt, sie habe im Vorfeld den Taskmaster-Subreddit gelesen und festgestellt, wie viele autistische Menschen die Show gucken, und daraufhin eine Entscheidung darüber getroffen, wie sie die Show angehen wollte:

I realised that by being my unmasked self while having fun I’d reach them way better than by doing some serious on-the-nose documentary about how shit my life had been when I was undiagnosed[.]

»Autistische Repräsentation« in Medien und Popkultur ist meistens noch immer vor allem Repräsentation von autistischem Leid. Versuche »positiver« Repräsentation autistischer Menschen fallen oft in das alte Erzählmuster von Charakteren, die ihren Autismus überwinden, die trotz ihres Autismus »funktionieren«. Egal ob in Fiction oder Non-Fiction, das Narrativ, dass ein »erfolgreiches« Leben für autistische Menschen bedeute, möglichst wenig als autistisch aufzufallen, ist überall. Selbst in den wenigen Repräsentationen, die einer autistischen Perspektive Wert zusprechen — sagen wir, Abed in Community —, liegt dieser Wert oft darin, unangenehmes auszusprechen, zu sagen, was gesagt werden muss, auch, wenn das für die Zuhörenden schmerzhaft ist. Und das ist ja schön und gut, aber was wir zu selten sehen, ist dass ein autistischer Blick auf die Welt eine Quelle von Freude sein kann, für autistische Menschen selbst und diejenigen, mit denen wir unsere Perspektive teilen.

Das ist, was Bradys Taskmaster-Teilnahme so besonders macht. Ihre Herangehensweise wird in Taskmaster selbstverständlich belohnt, sie hat erkennbare Freude an der Show und verbreitet Freude mit ihrer erkennbar autistischen Perspektive und Verhalten. Ihr Enthusiasmus für die Show und die Aufgaben war von ihrem ersten Interview mit Alex Horne spürbar, und sie bringt Horne regelmäßig dazu, seine Deadpan-Persona zu brechen, einfach indem sie, zum Beispiel, ein Maßband beschreibt, oder ihre eigenartige aber durchaus schlüssige Logik beim Lösen einer Aufgabe erklärt, oder, ja, »the quiet part out loud« sagt, wie wenn sie, als Davies eine von ihr mitgebrachte asiatische Suppe probiert, herausplatzt mit »You seem like you just eat roasts«. Brady produziert solche zitierbaren Sätze ohne erkennbare Mühe und sagt sie, als wären sie selbstverständlich, weil sie das wohl auch sind, für sie: Es sind die Sorte Gedanken, die ein autistischer Blick auf die Welt hervorbringt, aber die die meisten von uns lernen, nicht auszusprechen. Brady schreibt in ihrem Instagram-Post auch:

I knew a big part of doing well on Taskmaster was being yourself but if you’re autistic you’re so frequently punished for being yourself that it was a scary move.

Autistische Menschen haben den Ruf, »humorlos« zu sein, und meist wird das unserer Tendenz zugeschrieben, Dinge buchstäblich zu nehmen und daher rhetorische Feinheiten wie Ironie und Sarkasmus misszuverstehen oder zu überhören. Und wie viele Klischees hat das durchaus einen wahren Kern, aber ich glaube, ein anderer Grund für unsere scheinbare Humorlosigkeit ist, dass nicht wenige von uns Lachen und Witzigkeit mit Traumata assoziieren. Im Alltag, vor allem in der Kindheit und Jugend, lachen Menschen uns eher aus und machen Witze über uns, als dass sie unsere eigenen Beobachtungen und Gedanken witzig finden. Was wir für eine interessante Beobachtung oder einfach eine offensichtliche Wahrheit halten, wird dagegen als »unangemessen« abgestraft.

Improv-Comedy zu lernen und zu performen hat sich über dieses Jahr zu einem zentralen Teil meines Lebens entwickelt, und es ist ehrlich desorientierend — auf eine gute Art, größtenteils —, wie sehr ich so neu kalibrieren musste, was erwünscht ist und was nicht. Das, was Zuschauende am witzigsten finden, wofür ich am meisten Lob bekomme, ist meist etwas, was für mich einfach wie die offensichtlichste, selbstverständlichste Reaktion schien — es sind nicht Sätze, die ich mir mühsam aktiv überlege, sondern die naheliegendsten Gedanken, einfach meine erste, authentische Reaktion, die ich mich, ausnahmsweise, tatsächlich aussprechen lasse. Das ist viel schwieriger als es klingt: Ich habe über beinahe drei Jahrzehnte gelernt, diese instinktiven Reaktionen zu unterdrücken oder zu verstecken. »The quiet part out loud« zu sagen ist in alltäglicher Kommunikation mit neurotypischen Menschen selten erwünscht. Mich in einer Umgebung zu bewegen, in der genau diese Instinkte, die ich als »falsch« verinnerlicht habe, belohnt werden, in der sie Grund zur Freude sind, zwingt mich, grundsätzliche Annahmen über mich selbst zu hinterfragen. Es kostet Überwindung, das zuzulassen, und ich bin weit davon entfernt, das auf der Bühne verlässlich zu schaffen.

Brady in Taskmaster zuzuschauen hat mir einen Horizont gezeigt, auf den ich hinarbeiten kann. Ich will mir, wenn nicht im Alltag, dann wenigstens auf der Bühne, erlauben, so verlässlich authentisch und ungefiltert zu reagieren, wie Brady es in der Show getan hat. Ich will auch die Schwächen, die mit meinem Autismus kommen, etwa die eher unterdurchschnittliche Körperkoordination, so enthusiastisch annehmen wie Brady etwa in der Aufgabe, in der sie eine Synchron-Choreographie mit einer Aufnahme von sich selbst aufführen muss und dabei absolut glorreich versagt. Kurz: Ich will so sehr ich selbst sein wie Brady, so furchteinflößend das ist.


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  1. There are dozens of you!↩︎

December 3, 2022 comedy improv taskmaster tv fern brady essay autismus neurodivergenz deutsch text

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Sayaka Muratas »Zeremonie des Lebens« aus autistischer Perspektive

In der Titelgeschichte von Sayaka Muratas Kurzgeschichtenband »Zeremonie des Lebens«1 erinnert sich die Erzählerin Maho an eine Episode aus ihrer Kindheit. Im Schulbus »ging es um Dinge, mit denen wir uns gegenseitig füttern wollten«. Von »Wolken« über »Zuckerwatte« landen die Kinder schließlich bei Tieren und überbieten einander mit immer größeren und/oder exotischeren Tieren: ein Elefant, eine Giraffe, schließlich ein Affe. Das inspiriert die Hauptfigur zu ihrem eigenen Beitrag:

Als ich an der Reihe war, rief ich, ohne viel zu überlegen, »Mensch!«, womit ich witzig an den »Affen« anknüpfen wollte. Doch mein Vorschlag löste einen regelrechten Tumult im Bus aus.

»Krank« finden die anderen Kinder ihren Beitrag. Ihre beste Freundin bricht in Tränen aus. Ihre Lehrerin weist sie zurecht und droht: »Das wird ein Nachspiel haben«.

Maho versteht nicht, was sie falsch gemacht, »wieso Affe okay war, Mensch aber nicht«.

Wahrscheinlich hat jeder autistische Mensch eine Erfahrung dieser Art gemacht: Man erkennt irgendein Muster in der ansonsten oft undurchsichtigen Kommunikation der neurotypischen Menschen um einen herum, und tut sein bestes, diesem Muster zu folgen, geht dabei aber einen Schritt zu weit, überschreitet eine Grenze, die nie explizit gemacht wurde, aber über die sich irgendwie alle einig sind.

Murata beschreibt die Atmosphäre im Bus mit dramatischen Worten:

Der ganze Bus fiel mit derartiger Empörung über mich her, dass ich kein Wort herausbrachte und nur zu Boden stieren konnte.

Gemessen daran, wie solche Szenen in der Realität ablaufen, aus einer hypothetischen »objektiven« Perspektive betrachtet, ist das sicher eine überzeichnete Beschreibung. Das Gefühl, was ein solches Erlebnis auslösen kann, trifft Murata aber ziemlich gut.

In der englischen Übersetzung von Ginny Tapley Takemori gefällt mir die Beschreibung noch ein Bisschen besser:

All the humans on the bus, filled with righteousness, were reviling me.2

»All the humans on the bus«, als würde Maho selbst nicht dazu gehören. Als neurodivergenter Mensch in neurotypisch dominierter Umgebung zu interagieren, kann sich anfühlen wie eine ständige Prüfung der eigenen Menschlichkeit.

Aus dem Moment, in dem man an dieser Prüfung scheitert, »einen Schritt zu weit« geht, macht Murata eine Ästhetik, eine Weltanschauung. Sie entwirft ganze Welten basierend auf solchen unfreiwilligen Grenzüberschreitungen und unaussprechbaren Gedanken, und zeigt dabei auf, wie beliebig die Grenzen zwischen akzeptabel und inakzeptabel, sagbar und unsagbar eigentlich sind. Viele ihrer Protagonist*innen sind autistisch oder anderweitig neurodivergent gecodet3 und viele ihrer Geschichten — ob so intendiert oder nicht — lesen sich wie Verarbeitungen konkreter Elemente autistischer Wahrnehmung und Lebenserfahrung. Ich will mir hier nicht anmaßen, irgendjemanden zu diagnostizieren, und andere Perspektiven und Lesarten, etwa queere, feministische und kapitalismuskritische, sind ebenso valide; aber ich glaube, Analyse aus neurodivergenter Perspektive kann ein wichtiger Baustein sein, Muratas Arbeit zu verstehen.

»Zeremonie des Lebens« (die Kurzgeschichte) spielt in einer Welt, in der die Hinterbliebenen bei Trauerfeiern den Körper des Verstorbenen verspeisen und danach Sex miteinander haben in der Hoffnung, so neues Leben zu zeugen, die titelgebende Zeremonie. Maho scheint sich als einzige zu erinnern, dass das nicht immer die Normalität war, dass Menschenfleisch zu essen einst ein Tabu war — ironischerweise eben, weil sie damals einmal dafür bestraft wurde, als einzige das Tabu gebrochen zu haben. Wer sowieso intuitiv meist innerhalb der gerade akzeptieren Normen interagiert, dem fallen sie vielleicht gar nicht auf — erst, wer wie Maho dagegen verstößt, spürt, wie sehr sie unsere Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten begrenzen.

»Ein herrliches Material« funktioniert nach ähnlichem Schema wie »Zeremonie des Lebens«: Eine nach geltenden Normen und Maßstäben grotesk anmutende Praxis ist in der Handlung der Geschichte Normalität. Diesmal ist es die Weiterverarbeitung der Körper Verstorbener als Material für Möbel, Schmuck und Kleidung. Lediglich Naoki, der Verlobte von Erzählerin Nana, findet die Praxis »grausam« und verbietet ihr, Kleidung aus Menschenhaar zu tragen, was ihre Freundinnen wiederum befremdlich finden. Diese Umkehrung von »normal« und »abnormal« ist ein, zugegeben, wenig subtiler Kniff, und Murata hat einen Hang dazu, ihre Figuren in Thesen sprechen zu lassen. So wundert sich Nana:

Ich kann nicht begreifen, was er mit dem Wort »grausam« meint. Naoki sagt, es sei grausam, Menschen als Material zu verwenden, aber ich finde es viel grausamer, stattdessen sämtliche Toten zu verbrennen. Wir verwenden dasselbe Wort, um die Werte des anderen herabzusetzen.

Und viel deutlicher könnte Murata eine ihrer zentralen Ideen — die, dass Normen, Traditionen und Werte menschengemacht und veränderlich sind — nicht ausbuchstabieren. Aber Murata kann sich solche plakativen Passagen erlauben, weil sie an anderer Stelle mehr zeigt als erzählt, weil sie uns nicht nur erklärt, sondern auch fühlen lässt, wie solch radikal andere Werte als unsere entstehen und aufrechterhalten werden könnten. Stellenweise wird die Praxis, menschliche Überreste weiterzuverwerten, mit kühler Logik erklärt (vielleicht die Sorte berechnender, emotionsloser Logik, die autistischen Menschen oft unterstellt wird?) — wäre es nicht Verschwendung, die Verstorbenen einfach wegzuwerfen? Doch im Laufe der Geschichte erhält die Praxis auch eine überraschende emotionale Dimension: Am Ende präsentiert die zukünftige Schwiegermutter Nana einen Hochzeitsschleier, der aus der Haut von Naokis verstorbenem Vater genäht wurde, und Naoki, entgegen seiner Überzeugung, ist überwältigt von seiner Schönheit. Es ist ein verstörender, grotesker Moment — aber, irgendwie, spätestens, wenn Naoki eine Narbe seines Vaters im Schleier wiedererkennt, auch ein berührender. Die Geschichte endet auf einer Note von angemessener Ambiguität: Naoki weiß selbst nicht mehr so richtig, wie er über die Praxis denken soll, Nana scheint einzusehen, dass sie nie ganz verstehen wird, wie ihr Verlobter denkt und fühlt. Dennoch endet Murata auf einer versöhnlichen Note:

Es war Naoki, noch kein Gebrauchsgegenstand, der meine Hand hielt. Wir teilten unsere Körperwärme für die kurze Zeit, in der wir nicht nur Material, sondern Lebewesen sein durften. Dieses Gefühl, am Leben zu sein, war ein kostbarer Moment der Illusion, und ich drückte Naokis schlanke Finger noch fester.

Es ist ein zärtliches, etwas kitschiges Ende, und angesichts des vorangegangenen hat es auch eine gewisse Absurdität, etwas Verstörendes auch, und irgendwie ist das genau der richtige Ton für das Ende einer Geschichte, die letztlich illustriert, wie schwierig es ist, aber auch wie wertvoll es sein kann, sich mit Menschen zu arrangieren, die die Welt anders wahrnehmen als man selbst.

Das Ende von »Ausgebrütet« ist ein verzerrtes Spiegelbild hiervon. Die Geschichte erzählt von Haruka, die laut eigener Aussage »keine Persönlichkeit« hat. Je nachdem, in welchem Umfeld sie bewegt, nimmt sie unterschiedliche Charakterzüge an — etwas das, wie die Geschichte anerkennt, wir alle zu einem gewissen Grad tun, hier aber ins Extrem getrieben wird: Haruki wird buchstäblich zu einem anderen Menschen, je nachdem, in welchem Umfeld und in wessen Gesellschaft sie ist. Die meisten Menschen in ihrem Leben kennen nur jeweils eine ihrer Persönlichkeiten: Die alten Schulfreund*innen kennen sie als Musterschülerin und nennen sie »die Vorsitzende«, die Kommiliton*innen an der Uni als die einfältige »Dummi«, und die Freund*innen aus dem Filmclub als die schöne, zerbrechliche »Prinzessin«. Ihr Verlobter Masashi hat sie als »Dummi« kennengelernt, doch Haruka befürchtet, dass er auf der Hochzeit, wo alle Freund*innen zusammenkommen, die Wahrheit erfahren wird.

Auch diese Geschichte endet damit, dass die Hauptfiguren sich erneut zu einem Leben miteinander bekennen, und mit dem Bewusstsein — seitens der*des Leser*in und der Erzählerin —, dass die beiden einander wohl nie ganz verstehen werden. Aber diesmal ist da ein Element von Selbsttäuschung seitens Masashis: Haruka offenbart ihm am Ende der Geschichte die Wahrheit über ihre verschiedenen Persönlichkeiten, und bietet ihm an, zu entscheiden, auf welche Persönlichkeit sie sich permanent festlegen soll. Doch Masashi akzeptiert die Wahrheit nicht — er glaubt noch immer, dass es eine »echte« Haruka gibt, die sie ihm vorenthält, und dass die Offenbarung der fünf verschiedenen Persönlichkeiten so nur eine neue Art der Täuschung ist. Erst, als Haruka ihm eine solche »echte« Persönlichkeit anbietet, gibt er sich zufrieden.

Doch die »echte« Haruka ist in Wahrheit genau das Gegenteil: eine bewusst von Aki konstruierte Persönlichkeit, die Haruka im Falle eines solchen Konflikts annehmen sollte. Masashi ist eher bereit, diese falsche Persönlichkeit — und die simple Küchenpsychologie dahinter — zu akzeptieren als Haruka in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit zu sehen.

»Ausgebrütet« funktioniert einfach als universelle Geschichte über die Schwierigkeit, mit anderen Menschen zusammenzuleben und dabei seine Individualität zu behalten. Sie lässt sich aber auch als eine Art Horrorstory über autistisches Masking lesen. Unter diesem Aspekt haben einige Momente der Geschichte zusätzliche Resonanz: Wenn Haruka erst in ihren frühen 20ern bemerkt, dass sie »keine Persönlichkeit« habe, erinnert das an die Krise, die es auslösen kann, wenn man als vor allem spät diagnostizierter autistischer Mensch zum ersten Mal versucht aufzudröseln, wo die über Jahre antrainierte »maskierte« Persönlichkeit aufhört und das »wahre Ich« anfängt.

Und als Aki Haruka ihre neue, konstruierte »Notfallpersönlichkeit« präsentiert, erklärt sie, bewusst eine »unangenehme« Persönlichkeit kreiert zu haben. Denn:

Das Hässliche ist immer eindrücklicher als das Schöne. Die Leute machen viel Aufheben davon und schwärmen, wie »ehrlich und authentisch« es sei. Und sie machen sich eigene Vorstellungen, erfinden eine klischeehafte Geschichte, fühlen sich bestätigt und dementsprechend so richtig wohl.

Auch das — und Masashis Bereitschaft, diese Persönlichkeit mitsamt ihren angeblichen niederen Intentionen, zu akzeptieren — erinnert an eine Erfahrung, die viele autistische Menschen machen müssen: Dass neurotypische Kommunikation mehr »zwischen den Zeilen« stattfindet als autistische, kann für autistische Menschen nicht nur deshalb herausfordernd sein, weil das Lesen »zwischen den Zeilen« weniger in unserer Natur liegt, und wir deshalb nicht immer verstehen, was sie uns, neben der offensichtlichen, buchstäblichen Bedeutung ihrer Worte, eigentlich noch sagen wollen; sondern auch, weil neurotypische Menschen — wohl weil sie es so gewohnt sind, dass ein Großteil der Bedeutung im Subtext und nicht in den Worten selbst steckt — manchmal eine Bedeutung, eine Agenda gar hinter den Worten autistischer Menschen auszumachen meinen, die wir gar nicht intendiert haben. Dass gleichzeitig Haruka selbst nicht erkennt, dass hinter Akis Konstruktion ihrer neuen Persönlichkeit — Aki dichtet der »wahren« Haruka unter anderem Neid auf sie, Aki, an — auch ein gewisses Eigeninteresse steckt, gibt dem ganzen noch eine gewisse bittere Ironie.

In weiteren Geschichten in »Zeremonie des Lebens« behandelt Murata unter anderem Essensaversionen und hyperspezifische Diäten (»Mein wunderbarer Esstisch«, »Die essbare Stadt«) und die Entfremdung vom eigenen Körper (»Puzzle«); sie erzählt von Menschen, die sich nicht als solche identifizieren (»Fiffi«), und von Figuren, die eigentlich für Menschen vorbehaltene Emotionen Objekten gegenüber fühlen (»Liebende im Wind«); nicht zuletzt tauchen immer wieder alternative Beziehungsmodelle auf. All das sind Themen, die universell sind, aber im Leben vieler autistischer Menschen besonders zentrale Rollen einnehmen, oder denen die Betrachtung aus autistischer Perspektive eine zusätzliche Dimension gibt. Tonal bespielt Murata dabei die ganze Bandbreite zwischen dem eher geerdeten, unscheinbaren »Die Ladenhüterin« und dem brachialeren, jedes denkbare Tabu brechenden Nachfolger »Das Seidenraupenzimmer«. »Zeremonie des Lebens« ist mal zärtlich, mal komisch, verstörend, und funktioniert gerade deshalb als Fortsetzung zu dem, was Murata in »Die Ladenhüterin« begonnen hatte, fügt es ihrem Porträt autistischen Lebens doch weitere Facetten und Tonarten hinzu.


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  1. Die deutsche Übersetzung von Ursula Gräfe ist im Aufbau Verlag erschienen. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.↩︎

  2. Ich kann nicht beurteilen, welche Übersetzung akkurater ist.↩︎

  3. Schon »Die Latenhüterin«, Muratas Durchbruch im Westen, war eines der glaubhaftesten, empathischsten literarischen Porträts einer autistischen Figur, die ich kenne.↩︎

November 15, 2022 review kritik essay literatur buch sayaka murata rezension autismus neurodiversität neurodivergenz deutsch text

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Don’t Worry Darling: Keine Katastrophe, aber auch nicht der Film, der er hätte sein können

Spoiler für Don’t Worry Darling.

Ich wünschte, Don’t Worry Darling wäre ein interessanterer Film.

Ich fand das Drama im Vorfeld in weiten Teilen ziemlich lächerlich: Dass es Spannungen und wahrscheinlich auch unprofessionelles Verhalten von Regisseurin Olivia Wilde am Set gab, daran zweifle ich gar nicht; aber das obsessive Analysieren von allem, was die Beteiligten zum Film sagen — oder, in Florence Pughs Fall, nicht sagen —, das Stilisieren von völlig egalem Premierenfootage zu einer Art Zapruder-Film, der beweisen soll, dass Harry Styles Chris Pine angespuckt habe1, das war alles einigermaßen drüber. Terri White hat einen Punkt, wenn sie schreibt, dass männliche Regisseure, selbst die, von denen wir wissen, dass sie nicht nur unprofessionell, sondern aktiv missbräuchlich am Set sein können, selten Gegenstand einer solchen kollektiven Obsession werden.

Es wäre daher schön, könnte ich schreiben, dass der Film selbst all das Drama und die Gerüchte vergessen macht, dass er für sich stehen kann. Leider ist Don’t Worry Darling die schlimmstmögliche Art von Film nach so einem Vorlauf: Er ist weder richtig gut, noch auf interessante Weise schlecht. Er ist einfach ziemlich egal, die Sorte Film, die man anschaut, milde unterhalten bis gelangweilt ist, um dann, am Ende, wenn »alle Puzzleteile zusammenkommen«, im wesentlichen sowas zu denken wie »Ah. Okay.« und dann nie wieder über den Film nachzudenken.

Es geht um Alice (Florence Pugh). Alice heißt so, weil sie oft in Glasscheiben und Spiegel guckt und in einer Welt lebt, in der der Schein trügt, und weil Matrix auch mit Alice-in-Wonderland-Referenzen gearbeitet hatte. Sie lebt mit ihrem Mann Jack (Harry Styles) in Victory, einer idyllischen 50er-Jahre-Kleinstadt irgendwo in der Wüste. Victory und seine Gemeinde wurden von Frank (Chris Pine) aufgebaut, der auch der mysteriöse CEO des »Victory Projects« ist, für das alle Männer in der Stadt arbeiten. Was genau sie da machen, darüber dürfen sie nicht reden, irgendwas mit »progressive materials«. Alice genießt zunächst die Idylle, das geordnete, routinierte Leben, und nicht zuletzt ihre leidenschaftliche Beziehung mit ihrem Mann, aber bald fängt sie an Fragen zu stellen und versucht dem Geheimnis von Victory auf die Spur zu kommen.

Wer etwa 5 Minuten des Films gesehen und ein Bisschen Wissen über das Subgenre hat, das Wilde hier bedient — oder, ganz ehrlich, wer den Trailer gesehen oder ein einziges Interview mit Wilde zum Film gelesen hat —, wird schnell ungefähr durchschauen, was hier los ist, auch, wenn es dann zwei, drei verschiedene Arten gibt, wie Wilde das auf der Plot-Ebene auflösen könnte (von denen sie die dümmste wählt). Wilde hält sich dennoch bedeckt für den Großteil der Laufzeit des Films, was eine gewisse Überschätzung von sich selbst und der Cleverness ihres Films nahelegt. Den Film aus dieser Motivation heraus zu gucken — als eine Mystery-Box, auf diesen »Aha-Moment« wartend, in dem sich alle Puzzle-Teile, die Wilde und Drehbuchautorin Katie Silberman vor uns ausgebreitet haben, zusammenfügen —, kann jedenfalls eigentlich nur zu Enttäuschung führen: Größtenteils bedient sich Wilde in der Konstruktion ihrer Mystery-Box einfach bei klassischen, besseren Filmen — Stepford Wives, The Matrix —, und anstatt überrascht zu sein oder die Cleverness der Konstruktion zu bewundern rollt man eher mit den Augen und erinnert sich daran, das alles anderswo schon besser gesehen zu haben. Die wenigen eigenen Impulse, die Wilde dem hinzufügt, beschränken sich weitestgehend auf Details der Sorte »wäre es nicht cool, wenn?« — einigermaßen beliebige Visuals und Motive, die irgendwie mysteriös und einprägsam wirken, aber die entweder gar nichts mit Wildes Mystery und ihrer Auflösung wenn man mehr als ein paar Sekunden darüber nachdenkt.

Das wäre in der Theorie gar nicht so schlimm, denn Wilde hat höhere Ziele als eine clever konstruierte Mystery: Don’t Worry Darling soll eine…Dekonstruktion? Satire? Von Incel-Ideologie und Kultur sein. Und würde das funktionieren — hätte Wilde irgendwas interessantes zu diesem Thema zu sagen — und stünde die Plot-Konstruktion irgendwie in diesem Dienste, könnte man die fehlende innere Logik und das Recyclen von Tropes und Motiven aus klassischen Filmen ja ganz gut verzeihen. Leider bleibt die Beschäftigung des Films mit dem Thema oberflächlich, und die Mystery-Box-Struktur ist dafür mitverantwortlich.

Wie gesagt: Man kriegt die Grundzüge des Geheimnisses von Victory einigermaßen früh mit: Offensichtlich handelt es sich um eine irgendwie konstruierte Welt, die die Flucht in eine Vergangenheit verspricht, in der die Welt (angeblich) noch simpler, die Hierarchien klarer waren, in der vor allem Frauen noch wussten, ~wo ihr Platz ist~. Auch lassen Wilde und Silberman Frank eine Sprache sprechen, die an die von Tech-Bros erinnert — halb Business-Pitch, halb Predigt — und, zu einem kleineren Grade, an die von rechten Influencern wie den im Marketing des Films oft von Wilde erwähnten Jordan Peterson.

Man kann also nicht behaupten, als wäre Wildes finaler »Twist« unvorbereitet: Victory ist eine virtuelle Realität, erschaffen von Frank, im realen Leben eben halb Tech-CEO, halb Incel-Guru; Männer wie Jack halten Frauen wie Alice gegen ihren Willen gefangen, ihre Erinnerungen werden unterdrückt, damit sie brav ihre Rollen im Incel-Paradies Victory spielen. Auf dem Papier passt das schon zu dem, was vorher kam, und überrascht höchstens in Details. Trotzdem funktioniert es nicht, trotzdem wirkt es wie aufgesetzt auf eine Geschichte, zu der es nicht ganz passen will.

Das liegt daran, dass es genau das ist, zumindest auf der thematischen Ebene. Der Blick in das Original-Drehbuch von Carey und Shane Van Dyke2, das 2019 auf der »Black List« der angeblich besten unproduzierten Drehbücher stand, ist hier instruktiv.

Vor Silbermans Rewrite war das Drehbuch fundamental anders strukturiert: Was in Wildes fertigem Film der finale Twist ist — die Offenbarung, dass Victory eine virtuelle Realität ist —, erfahren wir (und Alice) bei den Van-Dyke-Brüdern auf Seite 19.3 Vielleicht war das eine Studio-Note, vielleicht war es Wildes oder Silbermans Entscheidung, auf jeden Fall folgt diese Änderung dem aktuellen, ermüdenden Trend, jede erdenkliche Geschichte in eine Mystery-Box-Struktur zu zwängen, und wie so oft leidet das Endergebnis darunter: Es hat eine andere Wirkung, eine solche Offenbarung im ersten Akt oder ganz zum Schluss, als finalen »Twist« zu platzieren. In ersterem Fall ist es ein Teil des Setups, und die Frage des Publikums ist eher, was daraus gemacht wird; in letzterem soll es der finale Payoff sein, eine befriedigende Auflösung der Mystery — und das funktioniert einfach nicht, wenn die Details, wie hier, so undurchdacht sind. Daneben leidet auch unsere Beziehung zu Alice/Evelyn unter dieser Umstrukturierung: Was uns im Skript zum Weiterlesen bewegt, ist die Frage, wie diese Figur aus ihrer Gefangenschaft herauskommt — das kreiert eine viel stärkere Bindung zu ihr als das, was uns der Film bietet, wo es vor allem um die Frage gehen soll, was es mit Victory und dem »Projekt« auf sich hat, an dem die Männer der Stadt arbeiten.

Und während es im Drehbuch natürlich auch irgendwie um Patriarchat und Unterdrückung geht, ist die explizite Bezugnahme auf Incels Wildes und/oder Silbermans Idee. Es ist nicht so, dass das thematisch überhaupt nicht zum Material passen würde, aber auch das würde besser funktionieren, würde Wilde es früher explizit machen. Mit dem finalen Twist zeigt Wilde uns auch, in einer kurzen Sequenz, wie Jacks und Alice’ Leben in der realen Welt, vor Victory, aussah: Wir sehen eine kurze Szene, in der Alice, die in ihrem früheren Leben Ärztin war, von der Arbeit heimkommt. Jack beginnt einen Streit mit ihr, weil sie zu viel Zeit bei der Arbeit verbringe. Alice geht ins Bett, also wendet sich Jack seinem Computer zu, auf dem er einen Podcast oder ein YouTube-Video oder so von Frank hört, der in der Realität offenbar eine Art rechter Influencer ist. Harry Styles ist dabei halbherzig »hässlicher« gemacht, mit längeren Haaren, einer Brille und Dreitagebart. Ich find’s ziemlich sexy, aber die Idee ist glaube ich, eine gewisse Ungepflegtheit zu suggerieren.

Das basiert alles irgendwie auf Material aus dem Drehbuch, aber in dieser Kürze und Verdichtung, und positioniert als der finale Twist, der alles erklären und auflösen soll, ist es lächerlich oberflächlich. Es gibt uns keinen echten Einblick in Jacks Psyche, was essenziell wäre für eine substanzielle Kritik an Incel-Ideologie. Wildes Kritik beläuft sich, in dieser Form, im wesentlichen auf, »Incels sind ungepflegt und verbringen zu viel Zeit im Internet«, was ich doch einigermaßen dünn finde. Ja, die Sequenz lässt sogar die bösartige Lesart zu, dass Jack so viel Zeit im Internet verbringt, weil Alice zu viel arbeitet, was sicher nicht Wildes Intention ist.

Das Drehbuch enthält, wie gesagt, zwar keine offensichtlichen Bezüge zu Incel-Kultur, aber wir bekommen dennoch einen tieferen Einblick in Alice’ und Jacks Beziehung, und verstehen beide auch besser als Figuren. Die wohl schlechteste Entscheidung in Silbermans Adaption des Drehbuchs hat, vermute ich mal, erneut mit dem Ziel zu tun, möglichst viel »Mystery« zu erzeugen: Während Alice und Jack im Film zunächst eine scheinbar harmonische Beziehung führen, ist ihre Beziehung im Drehbuch von Seite 1 an ambivalenter. Sie wirken weniger wie ein junges Paar, das nicht voneinander lassen kann, als wie eines, das schon einiges hinter sich hat und in Victory einen Neuanfang starten will/soll (der natürlich, von Alice’ Seite aus, nicht so gewollt ist). Das heißt, dass von Anfang an Risse sichtbar sind, und was wir dadurch sehen können, ist erhellend: Alice und vor allem Jack sagen früh Dinge, die ihre wahre Persönlichkeit offenbaren, und im Laufe des Skripts erhalten wir ein vollständigeres Bild davon, wie Jack »tickt«, welche hässliche Ideologie er verinnerlicht hat.

Und noch etwas funktioniert so besser: Während Alice im Film zuerst an ihrer Realität zweifelt, und dann, dadurch ausgelöst, an ihrer Beziehung, ist der Verlauf im Skript umgekehrt. Für eine Geschichte über das Patriarchat und die Ideologien und Systeme, die es am Leben haltet, scheint mir das eine logischere, effektivere Progression: Alice vermutet die Probleme zunächst in ihrer Beziehung, erkennt dann aber, dass ihre persönlichen Konflikte mit Jack nur ein Ausdruck von größeren, systemischen Problemen sind.

Das ist alles, zugegeben, nitpicky. Don’t Worry Darling ist keine Katastrophe, und er hat, bei all diesen Schwächen im Skript, auch seine Stärken: Olivia Wilde ist zweifelsohne eine talentierte Regisseurin, sie findet durchaus einige einprägsame Bilder und die etwas nervöse, beunruhigende Kameraarbeit kontrastiert effektiv mit der scheinbaren Idylle Victorys. Florence Pugh, wie immer, ist fantastisch. Man kann sich das schon irgendwie angucken.

Aber ich finde diese Art von mittelmäßigem-bis-schlechtem Film irgendwie besonders ärgerlich: Ein solides Drehbuch wird gekauft und zu einem mittelmäßigen Film adaptiert, anscheinend nichtmal, weil irgendwelche Executives sich einmischen, sondern weil der*die Regisseurin unbedingt ihren eigenen »Take« mitbringen musste, und dabei die Stärken, die das Material bereits hat, übersehen hat. A Quiet Place war zuletzt ein ähnlicher, noch ärgerlicherer Fall: Hier wurde ein ziemlich großartiges, unkonventionelles Drehbuch durch den Fleischwolf von John Krasinskis Eitelkeit gedreht, sodass ein Film herauskam, der trotz seines cleveren und durchaus Effektiv eingesetzten Gimmicks letztlich konventionelle Hollywood-Fließbandware war. Aus einer recht düsteren Geschichte über eine ziemlich abgefuckte Familie, die sich irgendwie zusammenrotten muss, mit einem Ende, das — durchaus gewagt — suggeriert, dass es manchmal besser für eine Familie sein kann, wenn ein toxisches Mitglied aus der Gleichung entfernt wird, wurde eine Geschichte darüber, dass John Krasinski der beste Vater der Welt ist.

Don’t Worry Darling ist ein weniger arger Fall: Hier ist weder das Ausgangsmaterial so stark, noch der Film so weit weg, von dem, was die ursprünglichen Autoren vorhatten. Hier bleibt uns kein potenziell brillanter Film vorenthalten, es ist »nur« so, dass die fertige Version ein Stück schlechter »funktioniert«, merklich weniger effektiv darin ist, die Geschichte zu erzählen und die Ideen zu dramatisieren. Es ist keine Tragödie, wie bei A Quiet Place, und ich hoffe, dass Wilde nicht unfair »bestraft« wird (wie man nach dem Drama im Vorfeld leider erwarten muss).4 Aber es bleibt ärgerlich, dass Wildes Film eben nicht so gut ist, wie er hätte sein können, hätte sie ihrem Ausgangsmaterial mehr vertraut.


Danke fürs Lesen! Vielleicht gefällt dir ja auch mein Review zu Jordan Peeles Nope.

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  1. Sehr glaubhaft, dass jemand mit so streng durchkuratiertem Image wie Harry Styles sowas machen würde.↩︎

  2. Die Enkel von Dick van Dyke.↩︎

  3. Alice und Jack heißen im Drehbuch »Evelyn« und »Clifford«, ich werde hier der Einfachheit halber aber bei den Filmnamen bleiben.↩︎

  4. Ich hoffe dagegen inständig, dass John Krasinski lebenslanges Berufsverbot bekommt, aber das ist eine andere Sache.↩︎

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